Café Europa
Beim Gespräch mit Mihály Vajda, einem 80-jährigen Philosophen, hatte ich für einen kurzen Augenblick das Gefühl, die dunkle Entität mit der Hand greifen zu können, die man vielleicht als das Volk bezeichnen kann, einen trägen, aber zu totaler Gewalt fähigen Körper, der unter den neusten Erkenntnissen und den kulturellen Errungenschaften der Ästhetik und Moral einer Zivilisation immer schlummert, in egal welchem Jahrhundert. Mihály Vajda, der als Kind den Holocaust überlebt hat, erzählte von den Plakaten, auf denen der jüdischstämmige Millionär George Soros zu sehen war. Die Plakate warnten davor, dass Soros Ungarn an liberale Investoren verkaufen und immer mehr Ausländer ins Land holen wolle, um die Ungarn zu verdrängen. Die Regierungspartei sei vor kurzem, sagte Mihály, auf die demokratische Idee gekommen, sogenannte nationale Konsultationen durchzuführen. Jeder Bürger bekomme per Post einen Fragebogen, in dem er seine Meinung kundtun könne. Die Fragen seien zum Beispiel: Sind Sie auch der Meinung, dass es nicht sein darf, dass nach Ungarn jährlich eine Million Migranten kommen, um hier zu leben und Kinder zu bekommen? Ich fragte ihn, welche Verbindlichkeit die Antworten der Leute hätten, was die Regierung mit den Antworten anstelle. Es gehe nur darum, sagte Mihály, dass in den Nachrichten gesagt werden könne, was die Bevölkerung wirklich wolle – nicht die intellektuelle Elite, sondern die eigentlichen, wahren Ungarn. Das ist die neue Demokratie, das Volk wird nach seiner Meinung gefragt, sagte er und lächelte. Ich habe diesen Brief gleich in den Müll geworfen. Ein paar Tage danach klingelte eine junge Frau von der Fidesz-Partei bei uns und fragte, ob ich den Fragebogen schon ausgefüllt und zurückgesendet hätte. Die Demokratie wird hierzulande sehr wichtig genommen.
v.l.n.r. Alice Zeniter, Tibor Keresztury, Matthias Nawrat, Pétér Méses, Mihály Vajda.
© Solveig Bostelmann
Péter sagte, dass es den Fall eines älteren Mannes gegeben habe, der auf die Frage an seiner Wohnungstür, ob er den Fragebogen ausgefüllt habe, mit Nein geantwortet habe und daraufhin von den zwei jungen Männern, die ihn gefragt hatten, herumgeschubst und geschlagen worden sei. Es kam am Ende heraus, sagte Péter, dass der Mann blind war.
Nein, mich hat keiner verprügelt, sagte Mihály. Davon weiß ich nichts. Hier in Budapest lebe ich eigentlich ganz normal. Es gibt Restaurants, Theater, Kinos, die Leute haben teuere Autos, es gibt internationale Touristen, ich kann mich mit Freunden treffen, ich kann spazieren gehen, es gibt viele Geschäfte. Es ist alles normal, ich kann schreiben und denken, was ich will. Im Internet kann ich alles lesen und veröffentlichen. Es ist nicht so, dass mir jemand etwas verbietet. Wir Intellektuellen werden in Ruhe gelassen, niemand interessiert sich für uns.
Dass Orbán sich in seiner Heimatstadt ein riesiges Stadion bauen lässt, dass er die Straßen in Budapest umbenennen lässt nach politischen Helden der Zeit unter Horthy zwischen den Kriegen, dass er mit Putin befreundet ist, dass eine russische Firma demnächst ein Atomkraftwerk in Ungarn bauen wird, stört die Ungarn nicht, sagte Péter. Der Feind ist heute nicht mehr Moskau, sondern Brüssel. Nicht Europa, sagte Mihály, sondern die EU, das totalitäre Regime der liberalen Bürokraten.
Tibor, der unseren Aufenthalt organisiert hatte, wirkte abwesend, auch während des Gesprächs im Café Europa. Er schaute mich manchmal mit einem traurigen Blick an, wie von weit her. Es ist so wunderbar, dass ihr hier seid, sagte er einmal. Nach der Veranstaltung in der Andrássy-Universität kam er zu mir und legte mir eine Hand auf die Schulter und sagte: Das war wunderbar, vielen Dank.
Helsinki Committee
András vom Helsinki Committee, einer Nichtregierungsorganisation von Anwälten, die sich für den Schutz von Menschenrechten einsetzen, erzählte uns am Nachmittag die folgende Geschichte: Ein junger Mann irgendwo in einer kleinen Stadt auf dem Land fuhr auf einem Fahrrad mit defektem Licht und wurde von der Polizei angehalten. Da seit einiger Zeit die Gesetze verschärft worden waren, weil Orbán versprochen hatte, gegen die Kriminalität auf den Straßen vorzugehen, musste der junge Mann hundert Euro Strafe zahlen. Der junge Mann war arbeitslos, weshalb er einen gemeinnützigen „Freiwilligendienst“ ableistete, in den Arbeitslose geschickt wurden – ebenfalls eine Erfindung der neuen Regierung, um die Arbeitslosen für die Gemeinschaft nutzbar zu machen und um zu verhindern, dass sie nichts zu tun hatten. Für die Ableistung dieses „Freiwilligendienstes“ wird der junge Mann monatlich mit etwa hundert Euro entlohnt, sagte András. Nun ist die Situation so, dass der junge Mann entweder die Strafe von hundert Euro zahlt, oder für einen Monat ins Gefängnis gehen muss. In diesem konkreten Fall kann der junge Mann das Geld nicht zahlen, weil er monatlich nur hundert Euro verdient. Er hat eine Frau und ein kleines Kind. Es bleibt ihm also eigentlich nichts anderes übrig, als sich dafür zu entscheiden, ins Gefängnis zu gehen. Aber seine Frau hat keinen Führerschein, und wenn er sich fürs Gefängnis entscheidet, kann niemand die Tochter in die Schule im Nachbarort fahren. Für einen Monat muss dann also die Tochter der Schule fern bleiben, was problematisch ist, denn sorgen die Eltern eines Kindes in Ungarn nicht dafür, dass ihr Kind in die Schule geht, verletzen sie ihre Elternpflicht. Der Fall gelangt ins Jugendamt, das Kind wird ihnen möglicherweise weggenommen. Der junge Mann, der ein defektes Licht an seinem Fahrrad hat, sagte András, kann also weder die Strafe zahlen, noch kann er es sich leisten, ins Gefängnis zu gehen. Die meisten Menschen, die sich in solchen Fällen an uns wenden, sind Roma. Polizisten können selbst entscheiden, wen sie auf einem Fahrrad ohne Licht oder beim Überqueren einer Straße an einer roten Ampel oder an einer Stelle, an der es keine Ampel gibt, anhalten. Hier in Budapest überquere ich andauernd die Straße, ohne auf Ampeln zu achten. Auf dem Land gibt es Hunderte Dörfer, in denen es keine Ampeln gibt, und die Leute müssen dort irgendwie über die Straße gelangen. Sowohl Roma als auch sogenannte echte Ungarn. Trotzdem sind es zu über achtzig Prozent Roma, die verhaftet werden. Man gewinnt den Eindruck, dass echte Ungarn nicht über die Straße gehen.
Während András uns das erzählte, im Besprechungsraum einer zu Büroräumlichkeiten umfunktionierten Wohnung, lächelte er. Er drückte sich in gewähltem Englisch aus, wirkte gebildet. Zu Beginn des Treffens hatte er uns von der Hetzkampagne der Regierung gegen ihn und seine Kollegen und Kolleginnen erzählt, von den rechtlichen Hürden, die allen „ausländisch finanzierten“ Privatorganisationen seit einem halben Jahr gestellt wurden. Wir haben darüber diskutiert und beschlossen, sagte er, uns nicht, wie das von uns gefordert wird, zu registrieren, und unsere Finanzierungsquellen nicht aufzulisten. Die geforderten bürokratischen Handlungen sollen uns von der eigentlichen Arbeit abhalten. Wir sind zwanzig Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und haben monatlich 1600 Klienten, die meisten sind Kriegsflüchtlinge aus Syrien, dem Irak oder Afghanistan, die in den Lagern an der Grenze einen Asylantrag stellen. Wir finden, dass unsere Zeit besser investiert ist, wenn wir sie für diese Menschen zur Verfügung stellen.
Die jungen Dichter
Beim Treffen mit Autorinnen und Autoren vom József Attila Kreis, der Vereinigung junger DichterInnen Ungarns, erzählte Kata, die Präsidentin, von den Problemen im Bereich des Publizierens, das insbesondere für junge, noch unbekannte Schriftsteller fast unmöglich ist. Kein Verlag habe genug Geld, um in sie zu investieren, sagte sie. Kornélia erzählte von einem MentorInnennetzwerk, das sie auf ehrenamtlicher Basis gegründet hatten und in dessen Rahmen 160 ihrer Mitglieder ohne Bezahlung SchülerInnen und junge Schreibende für ein Jahr bei ihren Projekten begleiten. Es ist eine Reaktion auf eine Initiative der Regierung, die eine Akademie gegründet hat, sagte Kornélia und klang dabei nicht wütend, sondern fokussiert und problembezogen. Diese regierungsnahe Akademie, erklärte uns Ferenc weiter, besteht aus sechzehn SchriftstellerInnen, die dreißig Studierende als MentorInnen begleiten. Die Regierung hat dafür viel Geld bereitgestellt. Als nächstes ist eine Akademie für JournalistInnen geplant, sagte er. Es ist klar, was das für den Journalismus bedeutet. Keiner von uns, sagten sie alle, verdient mit dem Schreiben Geld. Ferenc arbeitete in einem Archiv, Kornélia an der Uni. Kata hatte eine Tochter und arbeitete als Gymnasiallehrerin. Wie ist das bei Euch, könnt Ihr vom Schreiben leben?, fragte Kornélia. Ich erzählte von der deutschen Förderlandschaft für SchriftstellerInnen, von den bezahlten Lesungen, von den Stipendien. Sie nickte. Das klingt gut, sagte sie.
Ákos, der das ganze Gespräch über still da gesessen hatte und traurig dreinschaute, erzählte mir später, als die anderen schon gegangen waren, dass er Flüchtlingskinder unterrichte, und dass seine Eltern ihn dafür ständig kritisierten. Diese Migranten, sagte sein Vater, sind noch schlimmer als die Roma oder die Juden. Ja, so ist das, sagte Ákos und lächelte mich entschuldigend an. Er zeigte mir auch ein Foto von einem Plakat, auf dem das Gesicht von George Soros zu sehen war. Auf seine Stirn hatte jemand einen Judenstern eingeritzt. Ákos suchte, während wir uns unterhielten, angestrengt nach deutschen Wörtern, er nannte seinen Vater „Vati“. Ich schämte mich auf einmal dafür, dass ich kein Wort Ungarisch sprach oder verstand.
© Solveig Bostelmann
Die Bar
Weil es unser letzter Abend war, wollte uns Péter eine Bar zeigen, die schon seit den Siebzigern existierte. Cafés, Bars und Restaurants in den Parterres beleuchteten die nächtlichen Straßen. Man erahnte Graffitis an den abgerissenen Hauswänden. Wir passierten einen Imbiss, vor dem eine Gruppe angetrunkener Mädchen und lachende Jungs standen. In einem jüdischen Restaurant aßen wir unterwegs Tscholent. Ákos blieb schüchtern. Einmal schloss er auf dem Weg zu mir auf und fragte, ob ich gern Kicker spielte. Ich selbst spiele es sehr gerne, sagte er. Dann gingen wir wieder schweigend nebeneinander. Ich spürte, dass er über allerlei sprechen wollte, dass ihm aber nicht die passenden deutschen Wörter einfielen.
Der einzige Gast im Gewölbekeller der Bar war ein Australier, der mit der Wirtin Ungarisch sprach. Irgendwann, wir saßen bereits eine Weile an einem der Tische, kamen vier Männer die Treppe hinunter, alle vier unmöglich dick wie große Babys. Es waren, wie Péter uns erzählte, die Söhne der Wirtin. Sie kamen in Anzug und Krawatte mit Geigenkoffern von ihrem Job in einem Hotel zurück. Sie verschwanden im hinteren Bereich des Kellers, saßen dort hinter einer Ecke an einen kleinen Tisch und rauchten. Dann standen sie plötzlich direkt vor uns, einer von ihnen setzte sich ans Klavier. Sie schienen den Raum unter dem Kellergewölbe ganz auszufüllen, als sie begannen, mit Jazz und Walzer gemischte Geigen- und Klaviermusik zu spielen, offenbar nur für uns, die wir, da der Australier inzwischen gegangen war, die einzigen Gäste waren. Vielleicht spielten sie sie aber auch für ihre Mutter, die hinter der Bar immer wieder zu dem überdimensional großen Gemälde über ihr aufschaute, das das Gesicht ihres, wie uns Péter erzählte, vor über zwanzig Jahren verstorbenen Mannes zeigte.
© Solveig Bostelmann
Ihre vier Söhne scherzten miteinander, während sie spielten, lachten, wenn einer ein besonders albernes Thema anspielte oder ein anderer ein unerwartetes, an einer bestimmten Stelle des Stücks eigentlich nicht mögliches Melodieversatzstück anklingen ließ. Ákos bestellte bei der Mutter eine Runde Palinka für die Söhne, über den sie sich sehr freuten und sich bei uns bedankten. Die gesamte Szene wirkte klischeehaft, aber sie war doch real, sie fand ja im heutigen Budapest statt. Mir war dieses Scherzen der Musiker untereinander bekannt, die Kommunikation mithilfe von Melodiemotiven, von Zitaten. Péter hatte Tränen in den Augen, als er um elf Uhr aufstand. Er musste den letzten Zug erreichen. Ich würde gern die ganze Nacht über mit euch weiter trinken, sagte er, aber ich muss morgen einen Auftragstext schreiben. Ich muss irgendwann wieder arbeiten.