ROT.
Wir beginnen unsere Reise am Roten Platz. Das russische Adjektiv „krasnej“ – „rot“, heißt bekanntlich gleichzeitig „schön“, der Rote Platz ist also auch der Schöne Platz, und mir scheint an diesem ersten Tag in Moskau, dass sich das, was ich gemeinhin mit dem russischen Rot verbunden habe, also etwa die roten Nelken und die Rote Armee, zunehmend hinter dem Schönen verbirgt, einer glatten Oberfläche, einer leutseligen Modernität und Aufgeräumtheit, zumindest im Stadtzentrum, wo die Touristen aktiv sind.
© Marion Poschmann
Vor 30 Jahren war ich das erste Mal in Moskau. Es gab keine Reklame und keine Cafés, die Straßen waren voller Schlaglöcher, und die Milizionäre an jeder Ecke verbreiteten eine bedrohliche Atmosphäre. Jetzt kann man sich mit „Lenin“ und „Stalin“ in hellen Anzügen vor dem Kreml fotografieren lassen, alle Wegstrecken sind vorbildlich asphaltiert, und die rote Fahrspur auf der Straße ist ein neuer Radweg, erst im letzten Jahr angelegt.
Vor 30 Jahren war ich mit der Schule hier, damals ein ungewöhnliches Reiseziel für Klassen aus dem westlichen Teil Deutschlands. Ich besuchte das Lenin-Mausoleum und kaufte im GUM einen russischen Leinenrucksack, der heute noch nach der Imprägnierung riecht, und einen kleinen elektrischen Samowar. Heute gibt es im GUM keine Samoware mehr, man kauft teure elektrische Kaffeemaschinen.
Nun sind 30 Jahre eine lange Zeit, und auch an anderen Orten der Welt hat sich in dieser Phase einiges verändert, sage ich mir, um mich zu hüten vor einem allzu nostalgischen Blick, einem absurden Vermissen dessen, was für mich das Interessante und Prägnante war: eine seltsame Abwesenheit über den breiten Prospekten, eine erschütternde Leere in den Läden, die die wenigen vorhandenen Dinge scheinbar unverstellt präsentierte und die Geschichte in ihnen spürbar werden ließ. Diese Art Leere gibt es in Moskau nicht mehr, ebensowenig wie es sie in Berlin noch gibt, wo derzeit die letzten Baulücken geschlossen, die letzten Einschußlöcher zugespachtelt werden.
Damals, auf Schulfahrt in Moskau, fuhr unser Reisebus abends an einem enormen Freibad mitten in der Stadt vorbei, es war mit Scheinwerfern hell erleuchtet und man konnte dort bis tief in die Nacht schwimmen. Am Ort dieses Freibads stand früher die Erlöserkathedrale, die wichtigste Kirche der Stadt. 1931 wurde sie abgerissen, um an dieser Stelle ein Hochhaus im Stalinstil zu errichten, dreimal so hoch, wie es die Kirche gewesen war. Dieses Hochhaus wurde nie gebaut, die Baugrube schließlich mit Wasser gefüllt. 70 Jahre lang diente sie als Sport- und Erholungsort für die werktätige Bevölkerung, während die Kirche im Untergrund verschwand, die Intellektuellen und Oppositionellen ihren Hang zur Spiritualität und ihre Nähe zur Orthodoxie entdeckten. Einige Untergrundschriftsteller etwa, die ich kannte, hielten vor Ostern penibel die Fastenregeln ein, leisteten auf diese Weise Widerstand.
Metrostation Majakowskaja, © Marion Poschmann
Verehrungskirche, © Marion Poschmann
In den Jahren 1995 bis 2000 hat man die Erlöserkathedrale wieder aufgebaut. Aus der Oberkirche wird jedes Jahr der Ostergottesdienst im Fernsehen übertragen. An der Stelle des alten Fundaments, wo man das Schwimmbecken aushob, befindet sich jetzt eine Unterkirche, die Verehrungskirche, die erfüllt ist von rotem Licht. Es stammt von der Leuchtschrift „Christos voskresje“ – „Christus ist auferstanden“, und füllt den Raum aus, der früher voll Wasser war. Das Kloster auf dem Berg Athos hat der Verehrungskirche eine Ikone gestiftet: Nikolaus der Wundertäter weint blutige rote Tränen über die 70 Jahre Existenz des Freiluftschwimmbads „Moskwa“.
Auch die Kremlbesichtigung ist ganz von Kirchen dominiert: Die Mariä-Entschlafens-Kathedrale, in der die Zaren gekrönt, die Erzengel-Michael-Kathedrale, in der sie beigesetzt wurden, die Mariä-Verkündigungs-Kathedrale mit bedeutenden Ikonen, unter anderem von Andrej Rubljow, die Mariä-Gewandniederlegungs-Kirche, zu Sowjetzeiten ein reines Museum und jetzt wieder im kirchlichen Betrieb. Das sowjetische Rot ist offenbar vielfach wieder zu einem altrussischen Rot geworden, dem Rot bäuerlicher Wangen, der Trachten und traditionellen Textilmuster, ein Rot, das seine Komplementärfarbe Grün geradezu herbeizwingt.
Die Kremlbepflanzung, sozusagen der schöne Aspekt des Roten, interessiert mich vor dem Hintergrund der Gartenkunst: Was für Pflanzen umgeben das Zentrum der Macht? Putin, so heißt es, residiert im Kreml ganz allein. Alle anderen, etwa Medwedew, arbeiten außerhalb der Mauern. Im Kreml dominieren drei Gewächse: Birken, Fichten und Flieder. Die Birken treiben helles Frühlingslaub, die Fichten sind außerordentlich zartnadelig und formschön, der Flieder blüht, wir haben also den Moment erwischt, in dem diese Pflanzen ihre repräsentative Funktion optimal erfüllen. Aber was repräsentieren sie eigentlich? Die russische Weite, die russische Seele, das ländliche Russland? Erstaunlicherweise kommen russische Gartenpflanzen zum Großteil aus deutschen Baumschulen. Die Qualität gilt als unübertroffen. Die größte Baumschule Europas, Bruns im Ammerland, erzielt einen hohen Prozentsatz ihrer Einnahmen aus Lieferungen an russische Oligarchengärten. Die Fichten an der Kremlmauer (Picea pungens Glauca — Blaue Stechfichte) stammen von Lorberg aus Brandenburg. Sie werden alle 25 -30 Jahre erneuert, damit sie die Mauer nicht überragen.
Picea pungens Glauca, © Marion Poschmann
Über die Herkunft des Flieders kann ich nichts herausfinden. Lange dominierte Frankreich die Fliederzucht, aber im 20. Jahrhundert wurde Moskau zur Hochburg des Flieders. Leonid Kolesnikow züchtete eine Reihe von Sorten, die heute als die beliebtesten weltweit gelten: Krasawitsa Moskwa – Schöne von Moskau. Galina Ulanowa – benannt nach einer Primaballerina. Polina Ossipenko – nach einer Jagdflugzeugpilotin. Sowjetskaja Arktika. Marschall Wassilewskij. Kremlewskije Kuranty – nach der Turmuhr des Kremls, eine Züchtung in Richtung Purpurrot. Ebenso Krasnaja Moskwa – Rotes Moskau, derselbe Name wie das sowjetische Damenparfüm.
Krasnaja Moskwa