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Russland

Céline Minard und Marion Poschmann reisten im Mai 2018 nach Moskau, Nowosibirsk und Irkutsk.
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  • Céline Minard
    14.05.2018

    ROT.

    Als ich das erste Mal nach Russland komme, sind die Zollbeamten eine Wand, mein Taxifahrer wartet schon seit einer dreiviertel Stunde auf mich, auch er eine Wand. Ich entschuldige mich in schlechtem Englisch, hebe Geld am Bankautomaten ab, dann fahren wir los. Er bleibt die ganze Strecke über eine Wand, vereitelt jeden Kommunikationsversuch mit demonstrativem Schweigen. Umgehungsstraßen, Autobahnen, Avenuen ziehen an uns vorbei, ohne dass ich die leiseste Ahnung hätte, wo wir uns gerade befinden. Eine halbe Stunde, vierzig, fünfzig Minuten hinter einer Wand. Allmählich geht die Straßenbeleuchtung an, Werbung taucht auf. Jetzt sind wir vermutlich in der Stadt, denke ich, da dreht sich die Wand mit breitem Lächeln um, schreit, als sei es ein einziges Wort: RED SQUARE! und deutet auf die leere Fläche zu meiner Rechten. Kurz darauf das Karl-Marx-Denkmal, das Bolschoi-Theater. Das Eis ist gebrochen. Ich bin da.

    Nur einen Monat nach meiner ersten Russlandreise kehre ich dank dem Literarischen Colloquium Berlin zurück, und der Rote Platz sieht gar nicht schlecht aus.

    Das Nowodewitschi-Kloster steht in voller Blüte, der Flieder ist aufgegangen, roter Backstein an Fenstern und Säulen, eingefasst in Weiß und mit Gold verziert. Schmale Kerzen auf Schalen aufgesteckt, eine rote Öllampe im Zentrum der funkelnden, heiligen Kreise. Christel reicht mir zwei Kerzen, ergriffen stelle ich sie vor die Madonna mit Kind, kleine flackernde Flammen, ich weiß schon, für wen. Der Friedhof ist voller Gras, Unkraut, wilden Maiglöckchen, Wiesenblumen. Ein Garten übersäht mit kleinen Bänken, wo man mit den Toten plaudern, rauchen, ein Gläschen trinken und spüren kann, wie die Zeit vergeht. Ein Kosmonaut, ein Telefon, eine Welle, ein Stabhochspringer, Militärs, Akademiker, all die unterschiedliche Systeme und Menschen. Und Tschechows Grab. Schlicht und weiß, die gesamte Steppe in einem schmiedeeisenumzäunten Karree. Helle Nelken, violette, blaue, rote Nelken am Fuß des Grabes.

    Das Wetter ist schön, es ist heiß auf der begrünten Promenade, die eine großen Teil Moskaus umrundet, und wo man sich während der Sowjetzeit erzählte, was außer Reichweite der Mikros bleiben sollte.

    Mit Natalia unterwegs, stille Kirchen im Viertel des Institut Français, karminrot und mit dicken Säulen in grellem, mediterranem Weiß. Griechisch vielleicht. Die Runde, die wir drehen, ist angenehm, hin und wieder bleiben wir stehen, heitere Stimmung. Wir bewundern die Ikonostasen. Verwenden beide das Wort Pfingsten.

    Als wir später Florian, Marion und das Team des Goethe-Instituts Moskau treffen, trinken wir eine verlängerte Limonade.

    Und im Schatten einer Datscha gemeinsam braunen Kwas und rot-sauren Mors aus großen Gläsern.

    Michael Strogoff wartet hinter seinem mit Eleganz und Silber beschlagenem Taschenbuchumschlag darauf, dass seine Heldenfahrt gen Osten beginnt. Sie hat schon begonnen.

  • Marion Poschmann

    ROT.

    Wir beginnen unsere Reise am Roten Platz. Das russische Adjektiv „krasnej“ – „rot“, heißt bekanntlich gleichzeitig „schön“, der Rote Platz ist also auch der Schöne Platz, und mir scheint an diesem ersten Tag in Moskau, dass sich das, was ich gemeinhin mit dem russischen Rot verbunden habe, also etwa die roten Nelken und die Rote Armee, zunehmend hinter dem Schönen verbirgt, einer glatten Oberfläche, einer leutseligen Modernität und Aufgeräumtheit, zumindest im Stadtzentrum, wo die Touristen aktiv sind.

    © Marion Poschmann

    Vor 30 Jahren war ich das erste Mal in Moskau. Es gab keine Reklame und keine Cafés, die Straßen waren voller Schlaglöcher, und die Milizionäre an jeder Ecke verbreiteten eine bedrohliche Atmosphäre. Jetzt kann man sich mit „Lenin“ und „Stalin“ in hellen Anzügen vor dem Kreml fotografieren lassen, alle Wegstrecken sind vorbildlich asphaltiert, und die rote Fahrspur auf der Straße ist ein neuer Radweg, erst im letzten Jahr angelegt.

    Vor 30 Jahren war ich mit der Schule hier, damals ein ungewöhnliches Reiseziel für Klassen aus dem westlichen Teil Deutschlands. Ich besuchte das Lenin-Mausoleum und kaufte im GUM einen russischen Leinenrucksack, der heute noch nach der Imprägnierung riecht, und einen kleinen elektrischen Samowar. Heute gibt es im GUM keine Samoware mehr, man kauft teure elektrische Kaffeemaschinen.

    Nun sind 30 Jahre eine lange Zeit, und auch an anderen Orten der Welt hat sich in dieser Phase einiges verändert, sage ich mir, um mich zu hüten vor einem allzu nostalgischen Blick, einem absurden Vermissen dessen, was für mich das Interessante und Prägnante war: eine seltsame Abwesenheit über den breiten Prospekten, eine erschütternde Leere in den Läden, die die wenigen vorhandenen Dinge scheinbar unverstellt präsentierte und die Geschichte in ihnen spürbar werden ließ. Diese Art Leere gibt es in Moskau nicht mehr, ebensowenig wie es sie in Berlin noch gibt, wo derzeit die letzten Baulücken geschlossen, die letzten Einschußlöcher zugespachtelt werden.

    Damals, auf Schulfahrt in Moskau, fuhr unser Reisebus abends an einem enormen Freibad mitten in der Stadt vorbei, es war mit Scheinwerfern hell erleuchtet und man konnte dort bis tief in die Nacht schwimmen. Am Ort dieses Freibads stand früher die Erlöserkathedrale, die wichtigste Kirche der Stadt. 1931 wurde sie abgerissen, um an dieser Stelle ein Hochhaus im Stalinstil zu errichten, dreimal so hoch, wie es die Kirche gewesen war. Dieses Hochhaus wurde nie gebaut, die Baugrube schließlich mit Wasser gefüllt. 70 Jahre lang diente sie als Sport- und Erholungsort für die werktätige Bevölkerung, während die Kirche im Untergrund verschwand, die Intellektuellen und Oppositionellen ihren Hang zur Spiritualität und ihre Nähe zur Orthodoxie entdeckten. Einige Untergrundschriftsteller etwa, die ich kannte, hielten vor Ostern penibel die Fastenregeln ein, leisteten auf diese Weise Widerstand.

    Metrostation Majakowskaja, © Marion Poschmann

     

    Verehrungskirche, © Marion Poschmann

    In den Jahren 1995 bis 2000 hat man die Erlöserkathedrale wieder aufgebaut. Aus der Oberkirche wird jedes Jahr der Ostergottesdienst im Fernsehen übertragen. An der Stelle des alten Fundaments, wo man das Schwimmbecken aushob, befindet sich jetzt eine Unterkirche, die Verehrungskirche, die erfüllt ist von rotem Licht. Es stammt von der Leuchtschrift „Christos voskresje“ – „Christus ist auferstanden“, und füllt den Raum aus, der früher voll Wasser war. Das Kloster auf dem Berg Athos hat der Verehrungskirche eine Ikone gestiftet: Nikolaus der Wundertäter weint blutige rote Tränen über die 70 Jahre Existenz des Freiluftschwimmbads „Moskwa“.

    Auch die Kremlbesichtigung ist ganz von Kirchen dominiert: Die Mariä-Entschlafens-Kathedrale, in der die Zaren gekrönt, die Erzengel-Michael-Kathedrale, in der sie beigesetzt wurden, die Mariä-Verkündigungs-Kathedrale mit bedeutenden Ikonen, unter anderem von Andrej Rubljow, die Mariä-Gewandniederlegungs-Kirche, zu Sowjetzeiten ein reines Museum und jetzt wieder im kirchlichen Betrieb. Das sowjetische Rot ist offenbar vielfach wieder zu einem altrussischen Rot geworden, dem Rot bäuerlicher Wangen, der Trachten und traditionellen Textilmuster, ein Rot, das seine Komplementärfarbe Grün geradezu herbeizwingt.

    Die Kremlbepflanzung, sozusagen der schöne Aspekt des Roten, interessiert mich vor dem Hintergrund der Gartenkunst: Was für Pflanzen umgeben das Zentrum der Macht? Putin, so heißt es, residiert im Kreml ganz allein. Alle anderen, etwa Medwedew, arbeiten außerhalb der Mauern. Im Kreml dominieren drei Gewächse: Birken, Fichten und Flieder. Die Birken treiben helles Frühlingslaub, die Fichten sind außerordentlich zartnadelig und formschön, der Flieder blüht, wir haben also den Moment erwischt, in dem diese Pflanzen ihre repräsentative Funktion optimal erfüllen. Aber was repräsentieren sie eigentlich? Die russische Weite, die russische Seele, das ländliche Russland? Erstaunlicherweise kommen russische Gartenpflanzen zum Großteil aus deutschen Baumschulen. Die Qualität gilt als unübertroffen. Die größte Baumschule Europas, Bruns im Ammerland, erzielt einen hohen Prozentsatz ihrer Einnahmen aus Lieferungen an russische Oligarchengärten. Die Fichten an der Kremlmauer (Picea pungens Glauca — Blaue Stechfichte) stammen von Lorberg aus Brandenburg. Sie werden alle 25 -30 Jahre erneuert, damit sie die Mauer nicht überragen.

    Picea pungens Glauca, © Marion Poschmann

    Über die Herkunft des Flieders kann ich nichts herausfinden. Lange dominierte Frankreich die Fliederzucht, aber im 20. Jahrhundert wurde Moskau zur Hochburg des Flieders. Leonid Kolesnikow züchtete eine Reihe von Sorten, die heute als die beliebtesten weltweit gelten: Krasawitsa Moskwa – Schöne von Moskau. Galina Ulanowa – benannt nach einer Primaballerina. Polina Ossipenko – nach einer Jagdflugzeugpilotin. Sowjetskaja Arktika. Marschall Wassilewskij. Kremlewskije Kuranty – nach der Turmuhr des Kremls, eine Züchtung in Richtung Purpurrot. Ebenso Krasnaja Moskwa – Rotes Moskau, derselbe Name wie das sowjetische Damenparfüm.

    Krasnaja Moskwa

  • Céline Minard
    15.05.2018

    SCHIENE.

    Der Flughafen ist leer, es ist noch früh, das Licht grell. Im Deutschen gibt es ein neutrales, unpersönliches „Ich“, „transzendental“, sagt Marion. In Berlin gibt es eine türkische Community, die in arabischer Schrift über deutsche Themen schreibt. Es gibt Schriftsteller deutscher Sprache und Schriftsteller französischer Sprache, die japanische Bücher schreiben. Die Kieferninseln, seltsam japanisch.

    Im Flugzeug nach Nowosibirsk verlässt Michael Strogoff in aller Eile Perm in einem Tarantas. Er weiß, dass das Gespann vorwärtsstürmen, sich von Hindernissen nicht aufhalten lassen wird. Er ist Russe: Feldsteine, Schlaglöcher, umgestürzte Bäume bringen ihn nicht vom Weg ab. Das Gespann fliegt nur so dahin. Das Flugzeug folgt ihm auf unsichtbaren Gleisen. Ohne jegliches Schütteln und Hüpfen.

    Ich träume seit Jahren davon, mit der Transsibirischen Eisenbahn nach China (Schiena) zu reisen.

    Wir wissen jetzt, dass man sich für die lange Reise mit Geduld und Wodka wappnen muss. Ihre Monotonie, das Gefühl, die Zeit stehe still, das den Reisenden in der ewigen Wiederholung der Landschaft erfasst. Ich habe es eilig damit, verlangsamt zu werden.

    Wir müssen unbedingt Talka finden und ihn schnell kaltstellen.

  • Marion Poschmann

    SCHIENE.

    Wir fliegen von Moskau nach Nowosibirsk, wir folgen der Transsib-Route in zehn Kilometer Höhe. Kann man sich einen Flug wie auf Schienen vorstellen? Es geht um die Bewältigung von enormen Distanzen, um eine geleitete Bewegung, um Vereinnahmung von Weite, um Fortschritt. Wir durchfliegen mehrere Zeitzonen, es ist eine bewundernswerte zivilisatorische Leistung, auf dieser Strecke eine Bahnlinie zu bauen, durch Wald, Sumpf und Ödland.

    Die schiere Größe Sibiriens wir deutlich, als wir landen. Der Fluß Ob zieht sich breit wie ein See durch die Stadt und verliert sich in den Wäldern. Die Laubbäume sind, man sieht es von oben, noch vollständig kahl. Hier herrscht eine ganz andere Jahreszeit als in Moskau, hier ist Vorfrühling, dort schon fast Sommer mit 27 Grad Celsius.

    Akademgorodok, die Vorstadt von Nowosibirsk, die Wissenschaftsstadt, die geschlossene Stadt der geheimen Forschung werden wir leider nicht besuchen, nicht das Denkmal für Labormäuse, nicht das Sonnenmuseum. Entscheidend ist die Brücke über den Ob, die die Transsibirische Eisenbahnlinie weiterführte. Aus der Ansiedlung der Bauarbeiter entstand die Stadt. Der Ob misst in der Breite etwa einen Kilometer, eine Weile trennte er die Stadt in zwei Zeitzonen. Heute, da eine Brücke nach der anderen über diesen Fluß führt, in Nowosibirsk insgesamt sechs, fehlt einem das Gefühl dafür, welch ein gigantisches Projekt dieser Brückenbau war. Die Schiene hat Sibirien erschlossen, die Schiene hat Zeitzonen überhaupt erst erforderlich gemacht.

    © Marion Poschmann

     

    Brücke, historisch

    Am Baikalsee fuhr lange eine Zugfähre, die die Eisenbahn aufnahm wie ein Tunnel, den See überquerte und die Bahn auf der anderen Seite weiterfahren ließ. Der Baikal ist auch an seiner schmalsten Stelle noch breiter als der Ob. Hier hat man keine Brücke gebaut, die Bahntrasse führt jetzt ein Stück um den See herum, wohl eine der landschaftlich spektakulärsten Strecken der Transsib.

    Brücken heute, © Marion Poschmann

  • Céline Minard
    16.05.2018

    WASSER.

    In dem ziemlich vollen Coupé bemerkt der anonym reisende Kurier des Zaren eine junge, zurückhaltende Frau. Lange Zöpfe, gesenkter Blick. Sie bewahrt Fassung, als der Zug entgleist. Eine Persönlichkeit.

    In Nowosibirsk ist vom Frühling noch nichts zu merken. Über das Rollfeld peitscht ein kalter Wind, die Bäume sind kahl. Überall ist Wasser, im Ob, in der Luft, auf dem Boden, es fließt, regnet, breitet sich aus, verdampft, wiegt schwer, dringt ein, atmet sich ein. Es durchnässt die Eichhörnchen im Park, den Beton und das massive Holz der Häuser mit ihren stilisierten weißen Bibern gegen böse Geister.

    Im Winter überquert man den gefrorenen Ob mit dem Wagen. Hört damit auf, wenn der erste Wagen durchs Eis gebrochen ist. Erfährt es aus dem Radio. Hier kündigen nicht die Mauersegler die schönen Tage an.

    Ein heftiges Unwetter bricht über dem Uralgebirge aus, Michael Strogoff lässt in einer Wegbiegung fast sein Leben, doch er ist Sibirier, er rappelt sich auf, bändigt die Pferde, besiegt einen Bären und fährt wieder los. Nadia, wie immer stoisch, setzt nach dem Sturm ihren Hut wieder auf.

    Laut einem sehr bekannten russischen Autor, dessen Name Natalia entfallen ist, die mich in einem japanischen Taxi auf holperigen Straßen zum Radiosender begleitet, gibt es zwei Probleme in Russland: die Straßen und Idioten. Sie fügt hinzu: Wenn letztere auf ersteren unterwegs sind, tut es weh.

    Rot ist Synonym für schön. Ein rotes Mädchen ist nicht unbedingt rothaarig, aber sie ist schön. Die Sonne ist rot. Der Platz. Die Kirchen. Die Kommunisten. Und die stalinistischen Bauten, deren Decken viel höher sind als die der Chruschtschowkas.

    Die Unterhaltung am Abend ist lebhaft und dreht sich an meinem Tisch um den metaphorischen Realismus, von dem ich keine Ahnung habe. Das Essen ist griechisch, der Wein ebenso. Einige Namen fallen: Alexei Parschtschikow, Nina Iskrenko, Iwan Schdanow, die ich mir notiere, in der Hoffnung, sie mögen ins Französische übersetzt sein. Drei Dörfer hinter Irkutsk erstrecken sich 2000 km Taiga ohne eine Menschenseele.

    Mein Nachbar Vitalij Schatowkin kennt diese Weite gut. Wölfe reißen dort nachts Hunde.

    Das Rot der Bettbezüge dominiert im Abteil der Transsibirischen.

    Ich bin da. Tiefschwarze Nacht.

  • Marion Poschmann

    WASSER.

    Angler, © Marion Poschmann

    Der Tag beginnt mit strömendem Regen. „Wie würden Sie die Probleme der Welt lösen?“ beginnt das Interview mit der Zeitschrift „Stil“, die als seriöses Magazin gilt, das sich keineswegs nur mit Mode befasst. Bisher hatte ich mich nicht in der Rolle gesehen, der Welt umfassende Lösungsansätze zu unterbreiten, für welche Probleme auch immer, aber in Russland gilt das Wort des Intellektuellen offenbar immer noch viel. Die Gesamtprobleme der Welt versuche ich zunächst auf Teilprobleme zu reduzieren, um dann pars pro toto eins nach dem anderen zu bearbeiten, im Vertrauen darauf, dass nicht nur ein Problem tausend andere nach sich zieht, sondern dass auch das Umgekehrte gilt: Wenn man in einem Bereich wirklich Lösungen findet, setzt das eine Reihe anderer Lösungen voraus. Oder es handelt sich eben nur um einen Tropfen auf dem heißen Stein. Ich fange an mit der Natur und dem Klimaschutz, konkret dem Bienensterben und den einwandernden Arten, darüber kommt man dann schnell auf Ökonomie, Migration, Globalisierung, die Probleme der Welt eben.

    © Marion Poschmann

    Meine Interviewpartnerin ist insbesondere am Thema der Information interessiert. Das größte Problem in Russland scheint derzeit der Umgang mit Information zu sein. Welcher Information kann man glauben? Zu Sowjetzeiten war die Staatslinie klar, man vermochte zwischen den Zeilen zu lesen, man mochte vielleicht nicht einverstanden sein, aber man wusste, woran man war. Jetzt herrscht offenbar große Unsicherheit. Beispiel Kirche: Wer sich früher taufen ließ, suchte darin einen Sinn jenseits des Staatsapparates. Jetzt bewegt man sich als orthodoxer Christ im Kielwasser der Macht.

    Bei strömendem Regen wandern wir später am Ob entlang, an den Springbrunnen und überfluteten Bürgersteigen.

    © Marion Poschmann

    Im Kunstmuseum ein Saal voll Gemälde mit ewigem Eis: Himalaya.

    Es gibt tatsächlich eine ganze Abteilung mit Werken von Nicholas Roerich. Roerich war der Initiator des Roerich-Paktes, eines Vorläufers der Haager Konvention zum Schutz von Kulturgut im Kriegsfall, er war Maler und Reisender, und er gründete mit seiner Ehefrau Helena eine Sekte im Zeichen der Theosophie.

    Seine Bilder sah ich zum ersten Mal vor vielen Jahren in Moskau. Damals war ich mit Marina bekannt. Marina schien mir wie der Prototyp der Frau im Sozialismus. Sie war selbstbewußt und aufrecht, sie pflegte keine künstlerischen Ambitionen, sie führte ein überschaubares, zufriedenes Leben, sie war NORMAL.

    Marina lebte mit ihrer Mutter in einem modernen Hochhaus am Stadtrand von Moskau. Sie arbeitete in einem Chemielabor, in ihrer Freizeit nähte sie gern. Sie trug selbstgeschneiderte, praktische Blusen, und wenn ich sie besuchte, bereitete sie einen russischen Salat aus Kohl, Möhren, Erbsen und Mayonnaise zu. Marina nahm mich mit zu einer Ausstellung von Roerich.

    Von mir aus hätte ich mir diese Bilder niemals angesehen. Ich fand sie wahnsinnig kitschig, naive Landschaften in psychedelischen Farben, monumentale mythische Figuren, kaum auszuhalten, aber auf ihre Art durchaus eigen. Diese Ausstellung war in Moskau ein Ereignis. Sie hatte außerordentlichen Zulauf. Die Massen schoben sich von Bild zu Bild, und wir verbrachten dort mehrere Stunden. Was daran das Besondere sei? fragte ich Marina. Marina schätzte an Roerichs Bildern die spirituelle Kraft. In jugendlicher Ignoranz nahm ich das so hin, ich konnte kaum fassen, dass die aufgeklärte Marina sich dafür interessierte, und erst jetzt in Nowosibirsk erfahre ich von der Sekte im Gefolge der Theosophen und namentlich Helena Blavatsky.

    Den Rest des Tages verschieben sich die Gletscher. Wir waten durch Wasser.

    © Marion Poschmann

  • Céline Minard
    17.05.2018

    CHAI. TEE.

    Endlich mein erster Samowar in Betrieb! Rund, weiß, voll, unter Druck, sein Feuer durch eine kleine gusseiserne Klappe mit Holz oder Kohle genährt (leider werde nicht sehen, wie die Zugbegleiterin, die in ihrem Zuständigkeitsbereich alles zu handhaben weiß, ihn beheizt). Das Wasser kommt mit 85°C aus dem Hahn, ich fülle zahllose Gläser, nur um ihn zu betätigen und im Flur herumzulaufen.

    Kein Kühlschrank in den Abteilen, ich werde nach Eis für die die Baikal-Coca-Cola fragen müssen. Und für den Wodka.

    Ein Uhr morgens: grüner Sencha.
    Sehr schlechte Nacht.
    Neun Uhr: Schwarzer Tee.
    Neun Uhr fünfzehn: Ceylon Premium.

    Kiefern, Birken, eine durchgängige, ockerfarbene Linie, einen Moment gespickt mit bunten Häuschen, dann wieder Kiefern, Birken, Kiefern mit schwarzem Stamm, roten Ästen, grünen Wipfeln, weiße Birken mit schwarzen Streifen, noch sehr zarte Knospen.

    Elf Uhr zehn: erneut Sencha.
    Vierzehn Uhr: Green Tea.

    Es reicht. Von nun an nur noch heißes Wasser. Aber ich kann unmöglich meinen Samowar nicht mehr besuchen, nur weil ich kein Tein mehr brauche.

    Die Zugbegleiterin wacht über alles, kann alles. Ihre Gesten sind Rituale, sie beherrscht aufs Genauste ihren Raum. Wenn der Zug hält, wischt sie die obere Trittfläche ab, hebt die Eisenplatte an, die die Stufen blockiert, entfaltet sie, wischt die zweite Stufe ab, dreißig Zentimeter poliertes Metall, steigt aus. Baut sich in ihrer Uniform links von der Tür auf, behält diejenigen im Blick, die austeigen, um Luft zu schnappen, merkt sich die Neuzugestiegenen. Während der zwei Nächte und dem einen Tag, den der Zug bis Irkutsk braucht, sehe ich sie in jedem Wortsinn wachen: prüfen, sortieren, die Einhaltung der Regel überwachen, bewachen, hegen, pflegen, anraunzen, wach bleiben. Der erste Kontakt ist in Russland komplex. Rau, von einer echten Sanftheit, beides widerspricht sich nicht. Zutiefst berührend.

    Ein großer Taubeutel im Fluss hinter Krasnojarsk. Der Fluss riesig, schlammig.

    Ich beeile mich mit meinem Buch, damit Michael Strogoff endlich auf der Höhe dieser Stadt anlangt, die der Zug schon vor drei Stunden hinter sich gelassen hat. Doch ihm stößt zu viel zu auf seiner Reise.

  • Marion Poschmann

    CHAI. TEE.

    Gegen Mitternacht fährt der Zug von Nowosibirsk ab. Vor dem Einsteigen kontrolliert die Schaffnerin Lena unsere Pässe und Tickets. Als sich der Zug in Bewegung setzt, kommt sie in jedes Abteil, verteilt Teegläser, erklärt den Ablauf der Mahlzeiten, und wir sind aufgefordert, uns jetzt sofort für die Getränkeauswahl zu entscheiden, die uns offenbar für die Reise zusteht. Ich nehme Baikal-Cola und eine Birnenlimonade namens „Duchess“. In kürzester Zeit hat sich mein Abteil in ein Getränkelager verwandelt, denn wir haben uns auch selbst schon bevorratet.

    © Marion Poschmann

    Im Gang steht der Samowar, mit hitzebeständiger Farbe lackiert, ein Monstrum, ein Maschinenteil, das den Zug antreibt, Kohle und Dampf. Mir ist dieser Samowar unheimlich, ich halte mich während dieser Fahrt an andere Getränke. Vielleicht auch, weil Lena von ihrem Platz aus genau verfolgt, wer mit seinem Teeglas zum Samowar geht, so, wie sie auch sonst alles unter Kontrolle hat, was in ihrem Abteil vor sich geht. Sie weiß, wer wann aufsteht, wer den Waschraum betritt, sie beseitigt die Spuren, sie trägt Uniform und Putzkittel, sie ist allgegenwärtig. Sie hat auch mein Mobiltelefon im Blick, das ich an der Steckdose im Gang auflade. Zwar muss sie einräumen, dass auch ich das Gerät bei offener Abteiltür nicht aus den Augen lasse, aber es ist ihr zu wacklig auf einem Klappsitz plaziert. Sie zerrt aus meinem Gepäck eine Plastiktüte und knotet das Telefon in der Tüte an einem Haltegriff fest. So baumelt es in der Bewegung des Zuges, behütet, gewiegt von Mütterchen Russland.

    Draußen kahle Birken, sumpfige braune Wiesen, ab und zu eine kleine Ansiedlung mit Holz- und Wellblechhütten. Man müsste diese Fahrt im tiefen Winter machen, wenn hoher Schnee liegt. Dann wüsste man die Hitze im Abteil noch mehr zu schätzen, die Wärme im Bauch des Zuges, die Höhle, die sich Kilometer für Kilometer weiterbewegt.

    Warum fährt man in Zeiten des Flugzeugs überhaupt mit der Transsibirischen Eisenbahn? – Die Züge werden besser, die Flüge schlechter, behaupten zwei Mitreisende im Speisewagen. Sie wüssten von Bekannten, die mit kleinem Kind reisen wollten. Ihr Flug habe sich um vier Stunden verzögert, und als es endlich losging, sollten sie 5000 Rubel zahlen, um mitgenommen zu werden.

    Gerüchte und Information. Das ist das große Thema in Russland. Ob es stimme, dass sich die deutschen Frauen Strumpfhosen mit Haaren kauften, um fremde Männer abzuschrecken? Sascha, der Scharfschütze, hat das im Fernsehen gesehen.

    Die Zeitung Argumenty i Fakty bringt in dieser Woche vor allem Beiträge zum 9. Mai, dem Tag des Sieges. Der Schriftsteller Juri Bondarew wird interviewt. Er gehört zu den perestroikakritischen Autoren, sein Roman „Heißer Schnee“ behandelt die Schlacht von Stalingrad.

    Kurz vor Irkutsk gehe ich zum ersten Mal mit meinem Teeglas zum Samowar.

    © Marion Poschmann

  • Céline Minard
    18.05.2018

    BEWEGUNG.

    Bewegungslos im Hotel lasse ich Fe auf dem Bildschirm hin und her flitzen. Ich springe auf lila Blumen, die sich öffnen, wenn ich Blume singe, ich bewege nur meine Daumen, erschöpft von der paradoxen Bewegungslosigkeit im Zug.

    Der Wind in Irkutsk ist wie ein Bad, die Bewegung der Luft in der Luft genau wie die Bewegung des Wassers im Wasser, machtvoll. Nach sechsunddreißig Stunden des Eingesperrtseins erweckt einen der Wind, der durch die weitläufige Stadt fährt, zum Leben. Wind auch über der Angara, die ein Mädchen ist, vielleicht eine Frau.

    In der Schwebe bleiben war vielleicht das Ziel der Reise.

    Ein alter Mann fegt das Kopfsteinpflaster vor der polnischen Kirche. Er hält seinen Besen in den Armen, nicht in den Händen, zugleich steif und beweglich, er hat alle Zeit der Welt, ein Stück Weltraum.

    Frauen lösen sich bei der Wache vor dem ewigen Licht ab. Wie Pfadfinder überqueren sie die Straße, im Gänsemarsch hinter der Chefin mit ihrem hochgehaltenen Stab auf der völlig leeren Straße, die weißen Bommel auf den gelbgrünen Uniformen erzittern kaum. Millimetergenaue Choreographie, ihre Haltung wird rituell ein letztes Mal auf dem Platz überprüft, mit Getöse marschieren sie los, werfen die Beine in die Luft, ihre Schritte im Takt. Nichts von einem Tanz.

    Später erfahre ich, dass es sich nicht um Soldatinnen handelt, sondern um die besten Schülerinnen von Irkutsk. Und dass es eine Ehre ist, unbeweglich vor der Flamme zu wachen.

    Rippenstück vom Ren im mongolischen Restaurant. Fett, köstlich. Und als Vorspeise Wurst, deren wörtliche Übersetzung so etwas bedeutet wie: „wenn Fleisch und Schmalz zusammen unterwegs sind“. In den dunklen Straßen von Irkutsk.

  • Marion Poschmann

    BEWEGUNG.

    Nach der Buchmesse Irkutsk sitzen wir mit einem Kinderbuchverleger aus Moskau am Tisch. Wir trinken sibirisch-mongolische Teesorten, „Taiga“, eine Mischung aus Moosbeeren und Thymian, „Sagaan Charaasgaj“, burjatisch für „Weiße Schwalbe“, eine unglaublich bittere Kräutermischung, und „Iwan-Chaj“, ein sehr milder Tee auf der Basis von Weidenröschen. Der Kinderbuchverleger verfasst Kindergedichte, aktuell ist er mit einem Buch über den Baikalsee auf der Messe vertreten. – Gab es dergleichen noch nicht? Nichts über den Baikalsee? – Es gab in der Tat ein Sowjetwerk, drei umfangreiche Bände, zu lang. Er habe diese Bände auf wenige kindgerechte Seiten reduziert.

    Der Verleger vertritt eine Haltung des positiven Denkens. Viele hätten in der Sowjetunion geklagt – keine Produkte, schlechte Unterkünfte, nichts funktioniere – jetzt klagten sie immer noch, fänden andere Gründe. Er hat ein mongolisches Gericht bestellt, das in einem irdenen Topf gebracht und von heißen Steinen warmgehalten wird. Immer wieder fischt er einen faustgroßen Kiesel aus seinem Essen. Man könne sich natürlich auf die Steine fokussieren und sagen, dieses Land serviere seinen Bewohnern nur unverdauliche Brocken, witzelt er.

    In Nowosibirsk trafen wir Autoren, die sich als Underground-Dichter bezeichneten. Was ist das Undergroundmäßige, fragten wir. Was schreibt ihr? – Kindergedichte für Erwachsene. – In Moskau saßen wir mit Alissa Ganijewa zusammen, deren Roman über arrangierte Ehen und romantische Liebe in Dagestan ich gelesen habe, sehr witzig, sehr kritisch, sehr informativ. Je weiter wir nach Sibirien vordringen, desto mehr scheint sich der Fokus auf Literatur für Kinder zu verschieben. Ich frage mich, was es mit der Kinderliteratur auf sich hat.

    Draußen fließt die Angara, „unsere“ Angara, sagt die Stadtführerin, durch die Nacht. An ihrem Ufer, habe ich morgens gesehen, stehen Sitzbänke mit Gedichten in den Lehnen. Man hält davor an, liest das Gedicht, lässt sich nieder, den Blick auf den immerbewegten Fluss gerichtet, im Rücken gestützt von den Versen über Irkutsk.

    © Marion Poschmann

     

    Angara, © Marion Poschmann

     

  • Céline Minard
    19.05.2018

    MASSE.

    Kein See, ein Meer, kein Meer, ein Ozean im Werden. Dabei nicht massig. Der Baikalsee, der uns mit strahlendem Wetter und einem bereits spürbaren Frühling empfängt, ist von einer luftigen Eleganz. Seine Ufer in leichten Dunst getaucht, in der Ferne Berge, er glitzert glatt, blau, tief. An den Pfählen des Leuchtturms noch Eisschollen, aber es ist mild. Das Wasser ist eisig, ein Bergsee. Omouls, winzige Ölfische, Störe, Karpfen, Groppen, fleischfressende Krabben bevölkern den See, ohne dass man sie sieht, es schneit Plankton in seinen Bodenrissen, ein Bergozean. Man ist erstaunt, dass es keine Walfische gibt.

    Der Baikalsee ist cholerisch, er hat seine Tochter Angara mit einem Stein beworfen, als sie zu ihrem Liebhaber wollte. Der Stein blieb in der Quelle stecken, die Tochter flieht und fließt weiterhin und hört nicht damit auf, sogar mitten im Winter, während ihr Vater im Eis gefangen ist, gespickt mit Eisschollen und schneidenden Zapfen. In Sibirien, wo Michael Strogoff am Ende seiner Reise tatsächlich ankommt, kurz vor Irkutsk, blind, entschlossen, verliebt – in Sibirien weiß man, dass die Angara nicht zufriert, niemals zufriert. Sie führt krachende Eisbrocken mit sich, ihr Lauf ist manchmal verlangsamt, aber nichts kann sie halten. Weder die Wut des Vaters, noch extreme Kälte. Sie erstarrt nie. Als sei Ovid hier vorbeigekommen.

    Die Sesselbahn trägt uns gemächlich zum Aussichtspunkt Cherski. Eine Seilbahn nimmt uns wieder mit nach unten, an ihrem Seil zwischen Erde und Himmel saust sie abwärts, ein Zugzeug unter freiem Himmel, schnurgerade.

    Die kleinen Kabinen am Strand sind knallrot und baikalblau. Man mietet sie für das abendliche Picknick zu einem Stundenpreis an. Das abnehmende Licht ist unglaublich klar, färbt sich als die Sonne untergeht rosa und dunstig. Ich taufe meine drei kleinen Seegeister dreimal mit Wodka und im Wasser, das sie verlassen werden.

    Ein wunderschöner Abend. Lasse ein paar Steine flitschen.

  • Marion Poschmann

    MASSE.

    Irkutsk floriert. Die Kirchen sind in strahlendem Weiß gestrichen, die alten Häuser frisch renoviert, überall Grünanlagen, eine historisierende Fußgängerzone. Früher sollten mit den russischen Festungsbauten Burjaten und Chinesen abgehalten werden. China ist nah. Irkutsk liegt in der gleichen Zeitzone wie Peking. Jetzt fallen die Touristen in Massen ein und vermüllen den Baikalsee. Volunteers aus der ganzen Welt reisen an und räumen wieder auf. Die Reichen sitzen in ihren Villen am Ufer. Egal was passiert, wer reich ist, scheint immer zu profitieren.

    © Marion Poschmann

    Unterwasserhänge, Thermalwasser. Baikalschwämme, Seeschnee aus kleinen Schwebeteilchen. Der Omul, ein Fisch, der nur hier existiert. Die Baikalrobbe ist die kleinste und fetteste Robbe der Welt. Eine Kugel mit Flossen.

    40 verschiedene Winde gibt es am Baikal, wenn sie mit 60 Meter pro Sekunde aufeinandertreffen, türmen sich sechs Meter hohe Wellen. Ständig ändert sich das Wetter. Die Sonne wärmt schon, die Winde sind auf eine Weise kalt, wie ich sie noch nie erlebt habe. Der See ist eisfrei.

    © Marion Poschmann

    Von den Schamanen hält man uns fern. Schamanen als Touristenattraktion, man fährt ewig lange hin, sieht ein Ritual, trinkt einen Tee, es lohnt sich nicht, heißt es. Aber auch so ist der Schamanismus allgegenwärtig. Wichtige Punkte mit Blick auf den Baikalsee sind nach burjatischer Tradition mit bunten Bändern verziert. Wo endet das Rituelle, wo beginnt der Müll? Wer darf diese Bänder anbringen, kann das jeder?

    © Marion Poschmann

    In Listwjanka alle paar Meter ein Räucherfischstand. Alle räuchern angeblich den Omul, was streng verboten ist. Tun sie es trotzdem, geben sie andere Fische als Omul aus? Alle paar Meter eine neue Qualmsäule aus dem nächsten klapprigen Öfchen. Jede dieser Räuchereien hat ihre eigene Musik, und zwar voll aufgedreht.

    Abends lärmen die Touristen vor dem Hotel. Man kann schon draußen sitzen. Am nächsten Tag schneit es.

  • Céline Minard
    20.05.2018

    VERGESSEN.

    Auch der Wald ist nicht massig. Gerade Stämme der Birken, der Kiefern, der Espen, zarte Blätter und Nadeln, die Sonne ergießt sich bis zum Boden. Der Teppich ist weich. Blühende Rhododendrons überziehen das Unterholz mit sanften lila Tupfern. Riesige kegelförmige Ameisenhaufen, bedeckt mit breiten, wächsern grünen, rankenden Blättern, Maiglöckchen, kein Bär zu sehen.

    Ich hatte vergessen, was ein Hang ist. Hatte Namen und Aussehen der Espen vergessen, das Geräusch eines Baches im Moos. Kannte nicht die spezielle Natur der Kälte, die mich auf dem Gipfel ergreift und durch Äste, Kleidung, Mütze, Kopfhaut dringt, beim Abstieg renne ich.

    Auf dem Markt kaufe ich Souvenirs und wärmende Kleidung, einen Schal und einen Gürtel aus Kamelhaar.

    Es schneit.

    Die Wellen klettern die Böschung hoch. Es ist doch ein Meer.

  • Marion Poschmann

    VERGESSEN.

    Helle Taiga. Die dunkle Taiga ist die „richtige“ Taiga, dort wachsen ausschließlich Nadelbäume, dort leben Wölfe, Bären. Helle Taiga ist Birkenwald, Zitterpappeln, Sibirische Lärchen. Die helle Taiga ist von großer Anmut, jetzt, da das Laub austreibt, der wilde Rhododendron rosa Wolken aus dem Unterholz schweben läßt, die Mücken und Zecken sich noch zurückhalten. Ich habe noch nie einen so schönen Wanderweg wie den Baikal-Trail beschritten. Die Berge sind steil, es schneit ein wenig. Helle Flocken, helle Birkenstämme, ein heller Himmel voll Wind.

    Baikal-Trail, © Marion Poschmann

    Nachts wache ich regelmäßig auf und weiß nicht, wo ich bin. An welchem Abschnitt der Bahnstrecke, auf welchem Kontinent? Am Beginn des Wanderwegs stehen Villen, die nicht wissen, aus welcher Zeit sie stammen. Konstruktionen aus wuchtigen Baumstämmen, Sepiaanstrich, Doppelgarage.

    © Marion Poschmann

    © Marion Poschmann

    Später reiten wir durch die helle Taiga. Schlammige Wege, nasse Wiesen, Schneegestöber. Wir reiten zu fünft, mehrere Fohlen begleiten uns, traben in den Wald, galoppieren wieder zu ihren Müttern, vollführen bizarre Sprünge. Frühling. Im Winter kann man hier einen Hundeschlitten mieten. In der schneefreien Zeit nehmen die Schlittenhunde an Rennen teil, gewinnen Urkunden, Pokale, bleiben im Training. Jeder Hund ist vor seiner Hütte angekettet, er kann auf das Dach springen, sich auf ein Brett legen, das den Schlamm zurückhält. Die Bretter sind naß, die Hunde unruhig. Jemand führt ein Kalb am Strick in den Stall.

    Schlittenhunde, © Marion Poschmann

  • Céline Minard
    21.05.2018

    RÜCKKEHR.

    Wieder Frühling am Ufer des Ozeans. Er ist jung und frisch. Eine letzte Zigarette mit Olga, in der Sonne, ich lerne den Namen der aufziehenden Wolken. Oblaka. Ich hole mir Wind in meine Lunge, ich sage, was man einem Ort sagt, den man gerne eines Tages wiedersehen möchte, bleibe fünf Minuten sitzen, sammle mich, wie die Russen, bevor sie aufbrechen.

    Achtzehn Stunden insgesamt, um in der Zeit und sechstausend Kilometer zurückzureisen. Ich weiß nicht mehr genau, wo ich lande, wie viel Uhr es in Moskau, in Paris ist. Ich kehre zurück mit Steinchen vom Baikalsee in den Ritzen meiner Sohlen. Ich höre sie auf dem Pariser Asphalt knirschen. Ich komme nach Hause und stelle fest: Alles ist klein.

    Aus was sind Reisen gemacht?

    Was lernen wir aus ihnen, was lerne ich aus dieser hier, die mich so weit nach Osten führte?  Vielleicht das, was der unerschütterliche Nikolaus mit dem tragischen Schicksal wusste, den Jules Vernes in seiner Geschichte opfert: Dass das Leben nichts weiter ist als „‘eine Hotelwohnung für fünf Tage‘, die man wohl oder übel am sechsten Tage räumen muss.“

  • Marion Poschmann

    RÜCKKEHR.

    Céline hat unterwegs Jules Verne gelesen und so die Reise gleich doppelt gemacht. Ich bin bei meiner Reiselektüre über die ersten Seiten nicht hinausgekommen. Ein zeitgenössischer russischer Krimi, Goldgräber in Sibirien, eine Sekte, Gehirnwäsche. Ich konnte nicht lesen, ich war zu eingenommen, ich war in Trance.

    Der junge Mann neben mir im Flugzeug schiebt sein Smartphone zu mir herüber und zeigt mir lustige Fotos von seiner Katze. So leitet er das Gespräch ein. Dann spricht er über die deutschen Biersorten, die die Firma, für die er arbeitet, importiert. Er hält einen kleinen Vortrag über seine Heimatstadt, welche Firmen, welche Fußballstadien, welche Sehenswürdigkeiten. Die Leute reden mit mir, um Englisch zu üben. Dann zeigt er mir einen Film, auf dem er festgehalten hat, wie seine Kollegen im Baikalsee baden. Das war gestern, ich weiß, um welche Temperaturen es sich handelte. Die Kollegen sind vergleichsweise beleibt und baden auch nur für ein paar Sekunden, aber ich bin doch betroffen, dass ich meinen Badeanzug nicht zum Einsatz gebracht habe. Zu wenig risikofreudig, zu untrainiert, zu abgelenkt.

    Der junge Mann berichtet, der neue Trend in Russland sei weiße Eiscreme zu dunklem, sehr dunklem Bier. Wenigstens das werde ich ausprobieren.

     


     

    Die Reise von Marion Poschmann und Céline Minard fand in Kooperation mit dem Goethe Institut Moskau und dem Goethe Institut Nowosibirsk statt.

    Die Texte von Marion Poschmann übersetzte Stéphanie Lux ins Französische und Tatjana Baskakova ins Russische, die Texte von Céline Minard übertug Odile Kennel ins Deutsche und Nina Khotinskaja in Russische.

    Anmerkungen von Odile Kennel zu Céline Minards Text:

    Die verwendeten Ausdrücke, Übersetzungen, Schreibweise rund um Michael Strogoff stammen aus: Jules Vernes. Der Curier des Czar. Von Moskau nach Irkutsk. A. Hartleben, Wien Pest Leipzig 1876, Übersetzung: ?

    Siehe auch: http://www.zeno.org/Literatur/M/Verne,+Jules/Romane/Der+Courier+des+Czar

Portrait Céline Minard: © Alexandre Isard, Portrait Marion Poschmann: © Heike Steinweg Suhrkamp Verlag
Übersetzung FR → DE: Odile Kennel, Traduction DE → FR: Stéphanie Lux, Translation DE → RU: Tatjana Baskakova, Translation FR → RU: Nina Khotinskaja