This Website needs Javascript to work properly. Please activate Javascript on your browser.

Sarajevo

Pascal Richmann und Oliver Rohe reisten im April 2018 nach Sarajevo.

Oliver Rohe

Die Namen von Sarajevo
Am Gate G17 des Wiener Flughafens, wo ich umsteige, unterhält sich Harlem Désir mit seinen jungen Assistenten. Zwischen ihn und sein Image passt nicht einmal ein Zigarettenpapier – da ist nicht der geringste Abstand, kein Spielraum. Wir sind vermutlich nur wenige hier unter den Deutsch, Englisch und Serbo-Kroatisch sprechenden Reisenden, die ihn erkennen. Keine Ahnung, ob ihn die Anonymität, von der so viele Berühmtheiten träumen, beglückt, keine Ahnung, ob er glücklich ist, in der zweiten Klasse zu sitzen, auf einem der hinteren Sitze, während ich ziemlich weit vorne Platz nehme, wo es im Falle von Unannehmlichkeiten am wenigsten schwankt. Ich behaupte jetzt einfach mal, dass er glücklich ist.

jetzt lesen (≈ 24 Min)  

Pascal Richmann

Die Namen von Sarajevo
OK, zuerst passierte etwas, das mir bis dahin noch nie passiert war. Im Terminal 2 des Franz-Josef-Strauß-Flughafens ergoogelte ich gerade Zitate des Namenspatrons, als über meinem Kopf die Lautsprecher knisterten, Mr. Richmann, sagte eine Frau auf Englisch, bitte zum Schalter soundso, dallidalli, hopphopp, sagte sie und riss einen Joke, den ich zwar vor lauter Schreck sofort wieder vergaß, der aber die Reisenden mit Ziel Rimini, die um mich herum lagen, standen oder Räder schlugen, dazu brachte, auf ihren Sektflöten augenblicklich einen Blues anzustimmen.

jetzt lesen (≈ 22 Min)  

Oliver Rohe

Oliver Rohe

Die Namen von Sarajevo
Am Gate G17 des Wiener Flughafens, wo ich umsteige, unterhält sich Harlem Désir mit seinen jungen Assistenten. Zwischen ihn und sein Image passt nicht einmal ein Zigarettenpapier – da ist nicht der geringste Abstand, kein Spielraum. Wir sind vermutlich nur wenige hier unter den Deutsch, Englisch und Serbo-Kroatisch sprechenden Reisenden, die ihn erkennen. Keine Ahnung, ob ihn die Anonymität, von der so viele Berühmtheiten träumen, beglückt, keine Ahnung, ob er glücklich ist, in der zweiten Klasse zu sitzen, auf einem der hinteren Sitze, während ich ziemlich weit vorne Platz nehme, wo es im Falle von Unannehmlichkeiten am wenigsten schwankt. Ich behaupte jetzt einfach mal, dass er glücklich ist.

Tiefhängende, hellgraue Wolken verbergen den Blick auf die Landschaft. Leichter Regen. Das Rollfeld des Flughafens von Sarajevo ist leer. Harlem Désir steigt in den Bus, der uns zum Terminal bringt. Gelassen passiert er die Passkontrolle in der Schlange für Diplomaten, die am Ende doch kaum schneller vorankommt als die für Normalbürger. Ich stehe noch immer in seinem Windschatten, als er von einer kleinen, offiziellen Delegation in Empfang genommen wird, von der ich annehme, dass sie ihn noch glücklicher macht, als er es schon im Flugzeug war.

Meine Reisegefährten, Ismar und Pascal, warten in der Ankunftshalle auf mich. Ismar ist aus Bosnien. Als Kind hat er in Mostar gelebt, dann in Sarajevo, danach ist er nach Deutschland ausgewandert, nach Berlin, wo er einen Masterstudiengang in deutscher Literatur absolviert. Wir haben Glück, dass er uns auf unserer Reise begleitet: Er ermöglicht uns einen privilegierten, intimeren Zugang zur Stadt; wir erfahren Dinge, die wir ohne ihn nie erfahren hätten. Die beiden schütteln mir freundschaftlich die Hand, fragen, ob ich eine gute Reise hatte. Ich erzähle von Harlem Désir. Ausführlich. Sie lächeln höflich und peinlich berührt. In Sarajevo muss ich mich von gewissen Eigennamen verabschieden. Sie haben außerhalb ihrer Basis keine Wirkung.

Riesige Gebäudekomplexe sozialistischer Bauart tauchen am Ausgang des Flughafengeländes auf und säumen die Straße ins Stadtzentrum. An den alten, teils schon abbröckelnden Betonfassaden Einschläge von Kugeln und anderen Geschossen, geflickte Risse, neue Betonsteine. Für den, der zum ersten Mal in der Stadt ist, sind diese doppelt beschädigten Gebäude – einmal durch das Ende der Utopie, deren Schmuckstück sie waren, ein weiteres Mal durch die vierjährige Belagerung – die ersten Monumente des Krieges; für die Bosnier sind es einfach Wohnorte, hier leben sie. Mit großer Geschwindigkeit ziehen abgerundete, gelbe und rote Waggons an unserer Linken im Zentrum der großen Allee vorbei. Ihr Grollen klingt wie aus der Zeit der Industrialisierung, so sehr zielen die westlichen Straßenbahnen, ohne dass es ihnen immer gelingt, auf Diskretion. Wir nähern uns dem Holiday Inn und den renovierten Zwillingstürmen Momo und Uzeir, und ich habe plötzlich das Gefühl, dass mein Aufenthalt vor allem einem dienen wird: den bereits begonnenen Kampf aufzuzeichnen zwischen den Bildern meiner Erinnerung über die Belagerung der Stadt und der heutigen Realität der Stadt.

Die Hügel hinter der Scheibe tauchen im Takt der Lücken zwischen den Hochhauskomplexen auf, leicht verwaschen von den Wolken. Bis auf halbe Höhe sind ihre Hänge mit ein- oder zweistöckigen Häusern mit roten Ziegeldächern übersät. Dass die von der Straße getrennten Berge dort oben alle zusammenlaufen, dass sie einen perfekten Kreis über unseren Köpfen bilden, eine Arena, wird mir erst bewusst, als wir aus dem Taxi gestiegen sind, das Hotel verlassen haben und erstmals das Zentrum von Sarajevo betreten.

Auf dem Weg zu unserer Verabredung im Atelier Figure, wo morgen Abend unsere Lesung stattfinden soll, bleiben wir vor zwei Skulpturen am Rande des Veliki Park stehen. Die eine (Nermine, dođi!) stellt einen stehenden Mann in Jeans und T-Shirt da, er hat den Kopf leicht in den Nacken gelegt, sein offener Mund ist kreisrund, er formt seine Hände zum Megafon. Er ruft jemandem etwas zu, den wir nicht sehen. Ein bosnischer Zivilist, erklärt Ismar: Die serbischen Kräfte zwangen ihn, seinen Sohn mit dem Versprechen aus seinem Versteck in der Umgebung zu locken, er werde verschont werden, wenn er sich ergebe. Die Körper von Vater und Sohn wurden 2008 aus einem der Massengräber von Srebrenica gezogen. Die zweite Statue steht in einem Marmorbrunnen und ist abstrakter, ökumenischer auch; sie ist den bosnischen, muslimischen, serbischen, kroatischen, jüdischen und den Roma-Kindern gewidmet, die in den Monaten der Belagerung von Sarajevo ums Leben kamen. 521 Namen sind in kleine metallene Kolonnen in unmittelbarer Nähe eingraviert. An der gegenüberliegenden Seite der Straße erhebt sich ein gigantisches, nagelneues Einkaufszentrum aus Glas.

Das Atelier Figure befindet sich in der letzten Etage eines Wohnhauses. Eine Altbauwohnung mit Backsteinwänden voller Fotos, Karten, Gemälde und Lampen. Auf dem Boden Teppiche und Teppichboden. Ein oder zwei alte Kachelöfen, ein Klavier, Holztruhen, Holztische und -schränke, ein Haufen Zeugs. Eine kleine Bühne ganz hinten im Raum. Der Ort ist auf fantastische Weise originell. Sein Besitzer Slaviša Mašić – lange, graue Haare, grauer Bart, Hut, rotes Holzfällerhemd, breitschultrig und untersetzt, eine Persönlichkeit im besten Sinne – bietet uns eine durchsichtige Flüssigkeit an. Ein lokaler Alkohol. Mich überfällt eine plötzliche Müdigkeit, ich kann mich nicht mehr auf die Unterhaltung konzentrieren. Ich nehme die Wand und einige Gegenstände näher in Augenschein, bevor ich auf den Balkon trete. Vor mir liegen die Berge.

Atelier Figure

Wir gehen auf der belebten Hauptstraße der Altstadt spazieren. Hier und da sieht man noch von Kugeleinschlägen übersäte Fassaden, doch die Mehrheit der Gebäude scheint wieder in ihren ursprünglichen Zustand gebracht worden zu sein, und zwar so perfekt, dass es mir schwerfällt, mir diesen Teil der Stadt im Krieg vorzustellen. Es sind die Berge über uns, vor uns, an unserer Seite und hinter uns, die uns, die Fremden und Touristen, an die Belagerung erinnern. Die Architektur ist vernarbt, vergesslich: Über ungefähr hundert Meter wechseln sich österreich-ungarischer Stil und Modernismus ab, bevor das osmanische Erbe an die Reihe kommt. Die Legende lügt nicht. Kirchen gefolgt von Moscheen, gefolgt von Kirchen. Handwerkerateliers neben Geschäften, ein Neben- und Miteinander unterschiedlicher Kleidungsstile, Aufmachungen, Erscheinungen, Klassen, Atmosphären. Der Übergang von einem zum anderen Stil erfolgt nahtlos und trotzt den Fakten: Die Grenze zwischen dem alten österreichisch-ungarischen und osmanischen Reich wurde am Boden nachgezogen, aber sie ist nicht spürbar, wirkt einfach nur künstlich. Was mich im ersten Moment an Sarajevo verwirrt hat – dass die Elemente der muslimischen Kultur aus ihrem üblichen Nahostrahmen, in dem sie mir vertraut sind, heraustreten in eine exotische, alpine Landschaft –, besänftigt mich jetzt. Die Unordnung der Zeichen im Raum, in dem ich mich bewege, Orient im Okzident, Okzident im Orient, besänftigt mich; sogar der Eindruck der Berge wird sanfter.

(Wie in jeder x-beliebigen Stadt Westeuropas, denke ich etwas später, überall leben Menschen und Dinge zusammen. Die reflexartige Suche nach den „Unterschieden“, nach der „Vielfalt“ bei anderen, als gäbe es sie eigentlich nur bei uns, als wären wir überrascht, sie anderswo wiederzufinden, in einer Gesellschaft, die wir uns monolithisch gedacht hatten. Oder man sucht umgekehrt geradezu zwanghaft nach ihr, um sich zu vergewissern, dass das, was schon immer über diese Stadt gesagt wurde, wahr ist, um ihr Klischee zu bestätigen. Der Blick schießt sich gewissermaßen ins eigene Knie, indem er sich selbst Grenzen auferlegt und nicht mehr nach anderen Themen sucht. Kontraste und Vielfalt nehmen die Einwohner Sarajevos vermutlich nicht wahr, da sie sich nicht von außen sehen. Sie nehmen die Unterschiede, die sie ausmachen, nur wahr, wenn sie bedroht sind.)

Das Licht sinkt auf die roten Ziegeldächer. Die Geschäfte schließen, die Gassen leeren sich. Der Ruf zum Gebet weht begleitet von einer frischen Brise vom anderen Ufer herüber. Wir sitzen auf der Terrasse eines kleinen traditionellen Restaurants. Auf der Karte Fleisch. Ismar bestellt für alle Ćevapi. Ich fürchte schon, unter diesem Namen den Ersatz für türkischen Kebab serviert zu bekommen, den zu probieren ich mich immer geweigert habe, weil dieser wiederum nur der nahr- und zweifelhafte industrielle Ersatz des libanesischen Shawarma ist, den ich mir bei meiner Ehre geschworen habe, niemals zu kosten. Das Gericht ist trockener, schlichter als Kebab: längliche Kalbsbouletten in einem ziemlich dicken Pitabrot, gehackte Zwiebeln als Beilage.

Wir reden über die Vergangenheit der Stadt, darüber, dass die bosnische Bevölkerung von den europäischen Staaten im Stich gelassen wurde, und fragen uns, welche Rolle Islamophobie dabei gespielt hat – Sie wissen schon, dieses schwammige, freiheitsfeindliche Konzept, das von machtvollen, linksradikalen Kollaborateuren erfunden wurde, um noch die vorsichtigste Kritik am Islam im Westen zu unterbinden. Das Gespräch wechselt zur Behandlung der Exilierten in Deutschland und Frankreich. Merkel ein Kompliment zu machen, kostet mich Überwindung, aber ich lobe sie für ihre Entscheidung, 2015 die Grenzen für die syrischen Flüchtenden zu öffnen, während die Regierung von Hollande und Valls ihnen die Tür vor der Nase zuschlug. Mag Merkels Motivation noch so zweifelhaft und eigennützig gewesen sein, sich für Gastfreundlichkeit zu entscheiden (bzw. die Verpflichtung zur Gastfreundlichkeit Kriegsflüchtlingen gegenüber zu respektieren) erscheint mir umso mutiger (normaler), als dass Merkel bei den Wahlen im letzten Herbst teuer dafür bezahlt hat.
Da mussten nicht erst die Syrer kommen, damit die Alternative für Deutschland mit ihren Ideen bei den deutschen Wählern punkten konnte, sagt Pascal, und hat Recht. Zu behaupten, die AfD habe wegen Merkels Willkommenspolitik so viele Sitze im Parlament erhalten, läuft darauf hinaus, das Hauptargument dieser Partei zu akzeptieren und die Schuld wieder einmal auf die Geflüchteten zu schieben.

Dann erwähnt Pascal einen Text, den er vor kurzem für den Merkur geschrieben hat, und in dem er die verbindende ideologische Verwandtschaft beim Thema Einwanderung zwischen der AfD und der hochrespektablen CDU zeigt. Der Artikel holt unter anderem aus der Vergessenheit, was Kohl Thatcher gegenüber Anfang der 80er Jahre während eines offiziellen Besuchs geäußert hat. Über die nächsten vier Jahre, so Kohl, werde es notwendig sein, die Zahl der Türken um 50 Prozent zu reduzieren (…) Deutschland habe kein Problem mit den Portugiesen, den Italienern, selbst den Südostasiaten, weil diese Gemeinschaften sich gut integrierten. Aber die Türken kämen aus einer sehr andersartigen Kultur … [1] Wir sind uns schnell darüber einig, dass der zeitgleiche Triumph des liberalen Wirtschaftssystems und nationaler Mythen auf das Konto der europäischen Sozialdemokratie und der unseligen „Koalitionen der Mitte“ geht. Ich bestelle einen zweiten Teller Ćevapi.

Im Wiener Café des Hotel Europe, in einem etwas ältlich wirkenden, pompösen Dekor, kommt das Gespräch wie von selbst auf W. G. Sebald. Ismar schreibt über ihn seine Masterarbeit; Pascal bereut es, ihn erst jetzt gelesen zu haben, nachdem sein erstes Buch bereits herausgekommen ist. Es trägt den – übrigens ziemlich genialen – Titel Über Deutschland, über alles. Beide wundern sich, dass Sebald in Deutschland so wenig gelesen wird, während er im Ausland, vor allem in Frankreich und den USA, ein riesiges Echo fand und findet, was er auch den überschwänglichen Artikeln von Susan Sontag verdankt. Ihr Name ist in Sarajevo unauslöschlich mit Becketts Godot verbunden, den sie während der Belagerung der Stadt im Nationaltheater mit den lokalen Schauspielern und Technikern inszeniert hat. Beide lieben diese großartige Prosa, die mit seltener Geschmeidigkeit kluge und sensible Beziehungen zwischen Gegenständen, Themen, Wissen und Figuren knüpft, in einer in Raum verwandelten und sich auf einer flachen Oberfläche entfaltenden Zeit (ich fasse das auf meine Art zusammen). Ich kann keiner der genannten Qualitäten ernsthaft widersprechen, ich habe Sebald genau deswegen geliebt, aber ich finde, dass die Melancholie seiner Sprache und seines Blicks auf noch jede Facette der Welt zu einheitlich ist, schon fast aufgesetzt wirkt. So sehr wir uns fröhlich auf den europäischen Zentrismus als Schuldigen eingeschossen hatten, so sehr ist W.G. Sebald heute Abend Anlass einer ersten deutsch-französischen Meinungsverschiedenheit.

Hotel Europa, © Oliver Rohe

Ismar nimmt uns mit zur Lateinerbrücke, wo der berühmte Erzherzog erschossen wurde. Die Miljacka fließt ruhig zu unseren Füßen. Etwas weiter vorne prangen am linken Ufer eine neue türkische Fruchtbarkeitsklinik und die große weiße Synagoge von Sarajevo. Auf dem Weg zur Kunsthochschule denke ich an eine kurze Szene, einen kurzen Austausch mit Ismar heute Nachmittag. Wir befanden uns in der Ferhadija-Straße, vor der Herz-Jesu-Kathedrale. Ein schwarz-weißes Schild wies auf eine Fotoausstellung über das Massaker von Srebrenica in der Galerie 11/07/95 hin. Ich sagte, dass ich das Museum am nächsten Tag gerne besuchen würde. Er werde nicht mitkommen, erwiderte Ismar. Seine kurze, knappe, so legitime und verständliche Absage führte mir vor Augen, wie viel Schamlosigkeit in der Gier nach historischen Tragödien liegt, die ich, wie vermutlich jeder Tourist, seit meiner Ankunft in Bosnien mit mir herumtrage. Ich bin umso überraschter über diese spontane, verschämte Gier in mir, als ich sie oft genug bei denen verurteilt habe, die das Schatila-Lager im Süden Beiruts besuchen wollten.

Die Sammlung des Ars Aevi Museums. Von den ausgestellten Werken großer Künstler (Nan Goldin, Irwin, Beuys, Kapoor, Abramović usw.), die ein Solidaritäts-Geschenk für die belagerte Bevölkerung von Sarajevo gewesen sind, gefällt mir das von Stephan Balkenhol am besten. Lange betrachte ich diesen etwas verkleinerten Mann in Alltagskleidung, in leicht zusammengesunkener, inoffensiver Haltung, der nichts will. Seine Präsenz ist so nackt, so unpersönlich, dass sie von einer unleugbaren Lebendigkeit ist. Direkt neben dem Museum, aus dem ich ins gleißende Licht trete, taucht das riesige, graue Schiff des Skanderjia-Zentrums auf. Im überdachten Innenraum dieses Sportzentrums fanden 1984 die Olympischen Spiele statt; in seinem Untergeschoss wird heute noch jährlich die Buchmesse veranstaltet. Doch dem erschöpften Wunder scheint ein schmerzliches Sebald-Schicksal vorbehalten zu sein: Es wird vermutlich – leider – abgerissen.

Mittagspause. Die Böreks werden hier nicht stückweise, sondern nach Gewicht verkauft. Ich nehme die mit Käse- und Kartoffelfüllung, ein paar Tomatenscheiben zur Dekoration sind mit dabei. Während ich sie esse – sie sind köstlich – bedaure ich es jetzt schon, morgen nicht noch einmal herkommen zu können, um Böreks zu essen.

Wir überqueren die Brücke, auf der die zwei ersten Opfer des Bosnienkrieges gefallen sind. Zwei Frauen, Freundinnen, eine Serbin aus Sarajevo, Olga Sučić, die andere eine Muslimin aus Dubrovnik, Suada Dilberović. Eine Gedenktafel erinnert an beide, doch das kollektive Gedächtnis, erklärt Ismar – Gefühl statt Geschichte –, erinnert sich heute nur noch an den Namen der zweiten. Diese Brücke ist also die Suada- Dilberović-Brücke. Hinter uns erstreckt sich bis auf halbe Höhe des Hügels das Viertel, das früher unter serbischer Kontrolle war; hier verlief die Front, in diesem beschränkten Radius, davon zeugt das Gebäude gegenüber mit dem grauen Verputz. Von denen, die ich seit gestern gesehen habe, ist es das am meisten zerstörte. Unterwegs frage ich Ismar, was aus den ehemaligen Warlords geworden ist, ob sie sich ans aktuelle politische Leben assimiliert haben, ob sie als unberührbare Helden verehrt oder im Gegenteil gemieden und als störende Zeugen betrachtet werden. Die meisten sind tot, antwortet er, sie sind im Kampf gefallen oder in irgendeiner Racheaktion getötet worden; die anderen sind nach dem Ende der Belagerung, im Laufe der 2000er Jahre gestorben. Die grüne, blühende Allee, die uns ins Café Tito bringt, liegt direkt am Fluss. Wir begegnen Joggern, Paaren, Müttern mit Kinderwägen, Männern in Anzug und Krawatte. Ich stelle Ismar nicht die Frage nach all den anderen, die keine Chefs waren, keine hohen Dienstgrade hatten oder eine besondere Verantwortung, sondern einfach zur Waffe gegriffen, vielleicht getötet haben, um sich zu verteidigen: Wie sind sie ins normale Leben zurückgekehrt? Verfallene Wohnhäuser und andere verlassene Gebäude säumen hin und wieder unseren Weg. Ich nehme sie alle auf.

© Oliver Rohe

Mit Nicolas Moll und Florian Haderer auf dem Dach des BBI-Einkaufszentrums. Die beiden werden unsere Veranstaltung im Atelier Figure moderieren. Gemeinsam gehen wir die Themen durch, die wir heute Abend anschneiden möchten, legen die Zeit fest, die uns für die Lesung zur Verfügung steht, besprechen die Dolmetscherfrage und die der Beteiligung des Publikums. Während unserer Unterhaltung breitet sich die Sonne allmählich auf der Terrasse aus, quillt über die Laube, verbrennt Nicolas Profil und seinen linken Arm. Mein Sahne-Dessert sieht schon nicht mehr appetitlich aus, höchste Zeit zu gehen. Durch die Glaswand des Aufzugs suche ich die Skulptur von Nermine, dođi! unten im Garten. Sie wird von den Bäumen verdeckt. Der Aufzug hält in der dritten Etage, ein paar Jugendliche steigen ein. Es ist eng, die alte Dame, die zuerst da war, scheint sich zu beschweren, diskutiert mit einem der Jugendlichen. Kaum sind wir draußen und haben uns etwas entfernt, übersetzt Ismar den Dialog:

Die Großmutter: Sind wir jetzt nicht ein paar zu viel?

Der Jugendliche: Nein, Großmutter, wir passen alle rein.

Die Großmutter: Ich hab den Krieg überlebt, war verletzt, ich habe Angst vor geschlossenen Räumen.

Der Jugendliche: Keine Sorge, Großmutter, Gott schützt uns alle.

Die Großmutter: Gott existiert nicht. Wenn es ihn gäbe, hätte es den Krieg nicht gegeben.

Der Jugendliche: Genau deshalb sind Sie verletzt, Großmutter.

Der Jugendliche: Sehen Sie, Großmutter, Gott existiert. Sie sind gut angekommen.

Die Großmutter: Gott existiert nicht, es gibt nur Bärte.

Ausruhen im Hotel. Ich erinnere mich, dass bei Ausbruch des Krieges in Ex-Jugoslawien in den Medien, in mehr oder weniger fundierten Kommentaren und im politischen Diskurs oft von der Libanisierung des Balkans die Rede war. Gemeint war damit der Zusammenbruch der staatlichen Strukturen, die extreme Zersplitterung des Territoriums, der Bruderkrieg, die Zunahme bewaffneter Banden, die extreme Grausamkeit der Massaker. Die Grausamkeit, die Rückkehr des Archaischen, die Erbbrutalität: unbekannte Phänomene für den Westen mit seinen verfeinerten aseptischen Kriegsmethoden. Zehn Jahre später, als die US-amerikanische Armee in den Irak einmarschierte und das Land völlig zerfiel, sprachen die Medien und Experten von der Balkanisierung des Iraks und minderten bei der Gelegenheit die Rolle der amerikanischen Besatzer und der benachbarten Mächte in der Aufrechterhaltung des Bürgerkrieges. Die sogenannte Balkanisierung wurde auf den Urinstinkt der sunnitischen und schiitischen Iraker zurückgeführt, die natürlich nur den Sturz Saddam Husseins abgewartet hatten, um sich gegenseitig umzubringen. Acht Jahre später, nachdem in Syrien der Aufstand blutig niedergeschlagen, das Land zerteilt und den regionalen Gelüsten und internationalen Interventionen überlassen wurde, hieß es, das Land sei auf dem Weg zur Irakisierung. Diese Art der semantischen Migration vom Libanon über Jugoslawien und den Irak nach Syrien ist typisch für den allgemeinen Diskurs über Bürgerkriege – die Gruppen sind von Natur aus verfeindet und wollen nur eins, nämlich sich gegenseitig vernichten. Deshalb braucht man auch unbedingt Polizei – den historischen Einzelanalysen zum Trotz, die zeigen, dass jeder Konflikt unterschiedliche Ursachen und Abläufe hat und unterschiedliche Verhaltensweisen hervorbringt. Der Bruderkrieg, sofern es einen Bruderkrieg gibt, hat seine Ursache nicht in irgendeiner Abstraktion oder Natur, sondern beginnt immer mit konkreten Ambitionen und politischen Strategien. Er entsteht. Trotz konzeptioneller Fehler und zweifelhafter Motivation hat der Diskurs über Bürgerkrieg jedoch in einer Sache Recht: Diese Art von bewaffneter Gewalt, die meist in den urbanen Zentren ihren Anfang nimmt und sich vor allem gegen die Zivilbevölkerung richtet, eint sehr unterschiedliche, weit voneinander entfernt gelegene Städte in der Art ihrer Ruinenlandschaft, in ihrem Leid und in ihren gemeinsamen Wunden und Verstümmelungen (die Bilder von Sarajevos Straßen nach der Belagerung könnten auch die einer syrischen Stadt heute sein, die wiederum die einer irakischen Stadt gestern sein könnten usw.). Die Frage, die ich mir gestellt habe, als wir gestern auf dem Weg vom Flughafen ins Hotel die zwei scheußlichen, erst vor kurzem fertiggestellten Zwillingsglastürme erblickten, gleich nach der Kreuzung, an dem das Holiday Inn steht, und die ich mir erneut stelle, seit wir das BBI-Zentrum verlassen habe, die Frage also, wäre folgende: Gibt es eine vergleichbare Art und Weise des Wiederaufbaus, etwas wie obligatorische Immobilienfiguren, urbane Falten, die dem Wiederaufbau innewohnen? Teilen diese Städte vielleicht eine Nachkriegslandschaft? Soweit ich es bisher überblicke, versucht Sarajevo, sein österreich-ungarisches, osmanisches und sozialistisches Erbe zu bewahren, auch wenn es immer wieder angegriffen, verletzt, verstümmelt wird von diesen monströsen Zentren und Türmen, die jede Stadt auf dem Weg ihrer Genesung voller Stolz erbauen lässt, weil sie denkt, damit ihre vermeintliche Verspätung aufholen zu können.

Am meisten investieren in Bosnien die Golfmonarchien in Stein. Die dortige Mittelklasse, von der mir einige Vertreter am Flughafen begegnet sind, verbringen häufig ihre Ferien oder den Fastenmonat hier, wegen des Klimas, der bergigen Landschaft, der erschwinglichen Preise, des Essens und der Gebetsorte (einige davon von ihnen selbst nach ästhetischen Normen erbaut, die mit dem bosnischen Stil wenig gemeinsam haben). Und natürlich weil es für sie nicht mehr möglich ist, ihre Ferien wie früher in Syrien und vor allem im Libanon zu verbringen. Das Stadtzentrum von Sarajevo ist ziemlich gut erhalten, aber das gilt bald nicht mehr für das Umland und das Hinterland, wo Unternehmen der arabischen Halbinsel auf tausenden von Hektar riesige Immobilienkomplexe bauen, Residenzen oder ganze Dörfer für die, die es sich leisten können, will heißen, für die Bürger der Golfstaaten.

Nichts oder fast nichts findet so statt, wie wir es drei Stunden zuvor auf der Terrasse des BBI besprochen hatten. Ein Zeichen, dass alles bestens läuft. Das Gespräch zwischen uns auf der Bühne verläuft ohne größere Verluste oder Verzögerungen. Hin und wieder mischt sich jemand aus dem Publikum ein, unterbricht uns, stellt Fragen oder widerspricht dem, was wir gesagt haben, ich bin sehr zufrieden. Noch während der Veranstaltung, nicht erst danach, wird mir bewusst, was für ein Glück es bedeutet, an diesem Austausch teilnehmen zu dürfen, der in so viele Sprachen vervielfältigt wird, in einer so besonderen Stadt. Ich bedauere es nur, Pascals Buch nicht gelesen zu haben, aber ich kann kein Deutsch. Auf Florians Bitte hin spricht er noch einmal über seinen Artikel über die AfD und die CDU von Helmut Kohl. Die Brutalität und zeitlose Dummheit von Kohls Ausspruch über die Türken macht mich immer noch fassungslos. Pascal erzählt, dass damals, 1983, Lothar Matthäus seine Stimme gegen den allgegenwärtigen anti-türkischen Rassismus der deutschen Gesellschaft erhoben und die Einwanderer öffentlich in Schutz genommen hatte. Die Ohrfeige, die der muskulöse Lizarazu dem Bayern Jahre später ich weiß nicht mehr aus welchem Grund verpasste, erscheint mir plötzlich weniger sympathisch.

Simone Ginzburg lebt seit fünfzehn Jahren in Sarajevo und arbeitet für den hohen Gerichts- und Strafverfolgungsrat von Bosnien und Herzegowina. Wir treffen ihn neben der Bar. Er ist lebhaft und witzig. Ich frage ihn nach den Vertriebenen und bin mir der wenigen Zeit, die wir haben, und der ziemlich mondänen Umgebung bewusst. Ich frage ihn, ob sie zurückgekehrt sind, ob die, die ihren Besitz verloren hatten oder daraus vertrieben wurden, ihn inzwischen zurückerlangt haben; ob die Nachkriegszeit sich mit der kriegsbedingten Demografie abgefunden hat; anders gesagt, frage ich mich heute, ob die Nachkriegszeit das Kriegsunternehmen belohnt hat. Es sei zweifellos einiges getan worden, erwidert Ginzburg, es seien tatsächlich Menschen zurückgekehrt (ich rekonstruiere aus dem Gedächtnis), aber das Problem sei noch lange nicht gelöst. Das liege an der institutionellen Komplexität, die immer wieder Entscheidungen und deren Umsetzung verhindere (es gibt sechzehn Justizminister!). Manche kehren nur zurück, um ihren Besitz zu verkaufen und gehen dann wieder. Es fehlt an Wohnungen für die Rückkehrer und für die, deren Haus zerstört wurde. Die Serben leben hauptsächlich in Istočno Sarajevo, in der Republik Srpska, wohin sie während des Krieges gezogen waren. Wenige Augenblicke vor unserem Treffen hat Nicolas Moll ähnliche Schlussfolgerungen hinsichtlich der Erinnerungspolitik formuliert. Es habe nach dem Krieg und dann noch einmal Mitte der 2000er Versuche gegeben, Verfahrensweisen nach dem Beispiel der südafrikanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission zu etablieren. Alle sind gescheitert, teils weil das Konzept widersinnig war (die Opfervereinigungen waren nicht eingeladen!), teils weil sie durch die in allen Lagern noch wirksamen Machtstrukturen und nationalistischen Tendenzen behindert wurden. Viele Serben zum Beispiel erkennen zwar an, dass es in Srebenica Massaker gegeben hat, weigern sich aber, den Begriff Genozid zu übernehmen. Viele Bosnier wiederum weigern sich, die von Bosniern begangenen Verbrechen und Grausamkeiten anzuerkennen, nur um dem Opfer- und Relativierungsdiskurs der Serben in Bosnien keine Nahrung zu geben.

Kurzes Gespräch mit Ismar und Pascal auf dem Balkon. Die Berge hinter ihnen liegen im Dunkeln.

Ich weiß, dass es mir in diesen wenigen Tage kaum möglich sein wird, mehr als ein oberflächliches Fragment von Sarajevo kennenzulernen und dass ich vermutlich weder die Gelegenheit noch die Zeit haben werde, mich unter seine Bewohner zu mischen. Doch aus der Begrenzung eines solchen Aufenthaltes die Unmöglichkeit abzuleiten, über das wenige, was wir sehen und hören nachzudenken (es zu versuchen und zu scheitern), würde bedeuten, es sich rhetorisch leicht zu machen. Jeder Aufenthalt ist letztlich zu kurz.

Die Börekverkäufer haben geschlossen. Es wird kühl, ich beeile mich, verpasse die Querstraße zum Hotel, gehe noch einmal zurück. Die goldene arabische Schrift des Al Jazeera-Logos an der Fassade des BBI schimmert unter dem Dach des Hauptgebäudes. Nachts erinnert es weniger an einen Wassertropfen als an eine Flamme.

Gedenkpark Vraca, auf dem Trebević. Erst aus dieser Perspektive lässt die Vorherrschaft der Berge nach. Auch der Park, 1981 zum Gedenken an die Partisanen eröffnet, herrscht nicht über den Besucher: Er ergießt sich wie ein Parcours sanft den Hang hinab, fast in der Horizontale. Der weiße Stein ist abgenutzt, Unkraut wächst in den Rissen am Boden, zwischen den Stufen, an den Mauern. Die serbischen Kräfte haben bei ihrem Rückzug alles verwüstet.

Gedenkpark Vraca, © Pascal Richmann

Die Grenze zur Republika Srpska verläuft hier, gleich hinter uns, erklärt Nicolas. Kaum hat er den ausgetreckten linken Arm wieder angewinkelt und seinen Satz beendet, bemerke ich etwa zwanzig Meter weiter unten ein junges Paar, das unter einem Baum (wirklich!) Walzer tanzt und damit illustriert, was Ismar im Taxi gesagt hat: dass der Park den Liebespaaren als Treffpunkt dient. Auf den Steinplatten der nächsten Ebene ein Ring aus anthrazitfarbenem Marmor, in den die Namen einiger berühmter Partisanen eingelassen sind, darunter auch Walter. Nicolas beschreibt eine Szene aus einem patriotischen jugoslawischen Film, Walter verteidigt Sarajevo, in der Walter – den die Nazis nicht erwischen, ja nicht einmal identifizieren können –, in der Walter also als das Volk von Sarajevo bezeichnet wird. Einige Stufen weiter oben taucht die Festung auf. Heute Morgen ist das Gitter verschlossen. Ich versuche, den Innenhof zwischen den Gitterstäben hindurch abzusuchen. Nur noch wenige Buchstaben sind von der Inschrift an der Wand übrig, die jeden einzelnen Namen der 9091 zivilen Opfer des zweiten Weltkrieges erfasst. Die Zeit, die Belagerung, die Verwahrlosung haben sie nach und nach dem Stein entrissen und im Park und in der Stadt verteilt. Selten berühren mich Gedenkstätten für Tote, diese hier tut es, weil sie von den Toten selbst verlassen wurde.

Zwischen den Kiefern die Skulptur einer Frau mit erhobener Faust. Der andere Arm fehlt. Sie hat den Kopf leicht nach hinten gelegt. Ich interpretiere (wie auch Pascal, wie mir scheint), ihre Handbewegung als ikonische Geste, die zum Widerstand aufruft, zur Ablehnung des Faschismus. Nicolas verbessert mich: der zweite Arm ist nachts von Vandalen abgesägt worden. Er wurde Monate oder Jahre später zufällig bei einer Razzia in einer Privatwohnung gefunden. Heute wird er, von seiner Besitzerin getrennt, im Historischen Museum von Sarajevo ausgestellt.

Die roten Dächer und blühenden Bäume auf dem Weg zum alten jüdischen Friedhof würden an ein Dorf in der Schweiz oder Österreich erinnern, wären da nicht die – kaum sichtbaren – Einschläge von Kugeln an den Fassaden einiger Häuser. Nach dem Prager Friedhof ist dies der größte jüdische Friedhof in Europa. Nicolas erzählt, dass die während des Krieges hier gebliebenen Juden als neutrale Partei ein wichtiges Verbindungsglied zwischen den verfeindeten Parteien waren. Mit ihrem Hilfswerk kamen sie den Bewohnern aller Ethnien zur Hilfe. Und sie haben sich, sagt er, für Erinnerungspolitik und Versöhnung eingesetzt.

Eine weitläufige, verwilderte Wiese. In der Mitte ein monumentaler Baum mit hellgrauen Blättern. Darunter, als hätten sie sich bei einem geologischen Unfall aus der Erde geschoben oder wären nach einem langen Sturz vom Gipfel der Alpen ungeordnet auf dem Gras liegengeblieben, kleine, weiße Monolithen, einige mit Moos überzogen. Die sephardischen Grabsteine wurden vermutlich von den Gräbern der christlichen Bogumilen inspiriert. Sie beeindrucken mich zutiefst, was noch verstärkt wird, als ich sie von schräg unten betrachte. Erst mit dem Rücken zur Straße und dem Blick auf die Berge bemerkt man die Ladino-Inschriften auf den Steinen und fragt sich, warum die einen so gut erhalten und die anderen schon nicht mehr leserlich sind. Es sind frühe Grabsteine aus der Gründungszeit des Friedhofs zu Beginn des 17. Jahrhunderts. In Richtung Haupteingang und Straße wirken Geometrie und Materialien der Grabsteine vertrauter. Das lateinische Alphabet kommt zum hebräischen hinzu. Auf diesem tiefer gelegenen und neueren Teil des Friedhofs, der nach der Niederlassung aschkenasischer Juden in der Stadt entstanden ist, steht etwas abseits ein Holocaust-Denkmal. An einer Seite wurde es während der Belagerung von einer Kugel durchbohrt – die serbischen Kräfte beschossen von hier aus die Stadt.

Laut Nicolas wehren die Bosnier sich gegen das Wort Bürgerkrieg, der ihnen vom nationalistischen Diskurs der Serben aufgezwungen wurde, und sprechen lieber von einem Angriffskrieg der Serben und Kroaten gegen die Bosnier. Sarajevo ist nicht von einem Tag auf den nächsten im Wahnsinn des Bruderkriegs versunken, die Stadt wurde von den benachbarten Mächten militärisch angegriffen mit dem Ziel, ihre Multiethnizität zu zerstören.

Rückweg von Trebević zu Fuß. Mittagessen draußen, im Restaurant des Schachclubs. Ein Stück Kalbsfleisch mit Kartoffeln in einem traditionellen Topf gekocht. Tomatensauce. Kein Nachtisch. Nicolas zeigt mir einen Bildband über den Vraca-Gendenkpark aus der Zeit vor dem Verschwinden der Namen von der Wand. Nach dem Essen führt er uns in die Markthalle, in der um diese Zeit nur wenige Stände offen sind. Hier wurden 1994 und 1995 Zivilisten von serbischen Kräften unter Dauerbeschuss genommen. Die Namen der Opfer der Massaker sind auf einer großen (Plexi-?)Glasplatte vor einem roten Hintergrund zu lesen. An drei Stellen fehlen die Fliesen, aber diese Leerstellen sind womöglich Teil des Kunstwerks. In die Marmorplatte draußen sind die Daten der zwei „vom serbischen Aggressor verübten“ Massaker eingeritzt.

Die Fußgängerzone ist voll, aber nicht besonders laut, sommerlich gekleidete Menschen sitzen vor den Cafés. Ich frage Ismar, was er von den rot umrandeten Einschusslöchern überall in der Stadt hält, die von den Bewohnern die Rosen von Sarajevo genannt werden. Er antwortet mit der ihm eigenen Sanftheit: Was soll man sonst draus machen, außer Schönheit?

Auf dem Platz der Befreiung sind Schachbretter auf den Boden gezeichnet, auf denen mit riesigen Figuren Schach gespielt wird. Die Spieler spielen im Stehen, umringt vom ihrem Publikum – einem Heer von war consiglieri –, das mit ihnen über Strategien nachdenkt und die Züge kommentiert. Aus einem Duell wird hier ein kollektiver Sport.

Eine zehnminütige Seilbahnfahrt bringt uns auf den Gipfel der Berge, die wir nun endlich überragen. Mir wird nicht schwindelig. Familien spazieren auf den Wegen umher, nehmen Fotos von der Stadt auf, besetzen Rastplätze. Auf Umwegen kommen wir auf Heiner Müller zu sprechen. Ich gestehe mein Faible für seine Stücke, seine Erzählungen, Essays, Gedichte und seine Autobiographie. Wir wundern uns gemeinsam darüber, dass er in Deutschland fast schon in Vergessenheit geraten ist, als müsste er posthum dafür bezahlen, die DDR nicht verlassen zu haben. Ich erwähne seine Gespräche mit Alexander Kluge, den er aufgrund dessen intellektueller Beweglichkeit zu überschätzen scheint – in der Tat ist diese manchmal etwas oberflächlich. Pascal erzählt mir, dass Kluge der Verfasser des Klappentextes (des blurbs) seines ersten Buches ist. Ich schiebe mein Fettnäpfchen sogleich auf das Konto der europäischen Sozialdemokratie.

Ein Restaurant mitten im Wald. Eine riesige Terrasse, das Publikum eher bürgerlich. Die Sonne in der Fresse. Sebald hat sich schon wieder zu uns an den Tisch gesetzt, und ich habe schon wieder seine Melancholie missbilligt. Erst hier, in Sarajevo, wo mich die tentakelhafte Erinnerung an Beirut ständig bedrängt, wird mir klar, dass die Melancholie, die ich bei Sebald in den letzten Stunden, in den letzten Jahren so heftig abgelehnt habe, nur ein Zeichen, eine Maske für meine eigene Melancholie ist.

Idioten in einem Vierradantrieb fahren auf der schmalen Straße viel zu nah an uns vorbei. Wir laufen weiter. Die Kurve einer Bobbahn taucht zwischen den Bäumen auf. Die beeindruckende Betonmasse, die uns umgibt, ist mit Graffitis übersäht. Sie windet sich und verliert sich Wald. Ein Bruchteil nur des mehrere Hektar großen Geländes, das wir aus Zeitmangel nicht besichtigen können. Seine Gebäude und Infrastruktur wurden für die Olympischen Spiele und während des Krieges genutzt.

Der Abstieg in der Gondel verläuft schweigend. Als wir im sanfter werdenden Licht langsam über die ersten Häuser schweben, erzählt Ismar, dass die Bewohner der höher gelegenen Stadtviertel fast täglich unter dem Beschuss der Heckenschützen zu den Brunnen im Zentrum hinunter mussten, um Wasser zu holen. Und den gleichen Weg wieder nach oben, zurück nach Hause, beladen mit Kanistern. Er erwähnt den Schriftsteller Miljenko Jergović, dessen Werk ich nicht kenne, und der in seinen Erzählungen das Leben während der Belagerungsmonate beschreibt und Situationen und Verhaltensweisen, die uns heute absurd erscheinen mögen, die für die Bewohner damals jedoch völlig normal, alltäglich waren. Vermutlich findet man in Werken wie diesem, denke ich spontan, die größte Genauigkeit – die geringste Romantik – bei der Beschreibung des Krieges in Sarajevo.

Abendessen zu dritt in einem Restaurant mit familiärer Atmosphäre. Rindergeschnetzeltes mit Zwiebeln. Keine Ahnung, was für eine Soße das ist, aber sie schmeckt köstlich. Das gegrillte Gemüse als Beilage zählt nicht zu den Spezialitäten des Hauses. Die gebratenen Kartoffeln schon. Über Pascals Schulter thront auf einem Regal rechterhand ein großes Heft mit blauem Ledereinband. Sein Titel steht dort in mehreren Sprachen, eine davon Französisch: Livre des plaintes. Beschwerdebuch. Nicht ein einziges Mal haben wir an diesem Abend Sebald erwähnt.

Ich durchkämme am Morgen, bevor das Taxi kommt, die Regale der Buchhandlung Buybooks neben dem Hotel. Finde meine Lektüre für den Rückflug: The fixer von Joe Sacco.

Videos laufen in Schleife in einem Raum des Tunnelmuseums. Die Bilder der Belagerung und der unterirdische Fußweg haben mich noch nie so sehr erschüttert wie hier. Sie erschüttern mich mehr als damals, als sie in den Fernsehnachrichten gezeigt wurden, oder als in den letzten Wochen, als ich mir bei meinen Reisevorbereitungen einige davon angesehen habe.

Hingegen empfinde ich nichts oder höchstens eine unangenehme Skepsis, als ich die zehn Meter lange unterirdische Galerie durchquere, die nach dem heute zerstörten Original wieder aufgebaut wurde. Ich wettere innerlich auf Geschichte-als-touristische-Attraktion, doch dann verfliegt mein erstes Verärgertsein und mir wird bewusst, dass dieser Ort den Touristen nicht den Eindruck von etwas vermitteln will, das sowieso nicht vermittelbar ist, nämlich wie sich das unterirdische Durchqueren der Stadt angefühlt hat. Der Scheintunnel ist nur da, um seine eigene verschüttete Existenz zu überleben, und um die Schlauheit und den Mut derer zu zelebrieren, die ihn gegraben und benutzt haben, das Volk von Sarajevo.

Tunnelmuseum, © Oliver Rohe

Im Hof diskutieren Pascal und Ismar auf Deutsch. Wechseln sogleich ins Englische, wie sie es in meiner Anwesenheit immer getan haben. Ich meine zu verstehen, dass Ismar Angst hatte, die eigenen Kindheitserinnerungen nicht von den Erinnerungen trennen zu können, die seine Eltern ihm vermittelt haben. Er erzählt – aber ich fürchte, dass hier mein Englisch kaum mehr als eine ungefähre Übersetzung zulässt – von den Wegen seiner Mutter durch die Dunkelheit des zerstörten Mostars. Erwähnt die Angst vor den Gefahren, die in den Ruinen lauerten.

Etwas früher im Taxi auf dem Weg zum Tunnelmuseum. Nachdem wir das olympische Dorf mit seinen rosa Fassaden hinter uns gelassen haben, hält der Wagen am Straßenrand. Die Fahrerin öffnet die Wagentür, entfernt das Taxischild auf dem Dach und legt es in ihren Schoß.

– Warum haben Sie das entfernt?

– Weil wir bald aus Sarajevo raus sind und dann die Republika Srpska kommt.

Was ich jetzt am liebsten hören möchte, ist eine politische Begründung für ihre Geste. Ich möchte hören, dass sie als bosnische Taxifahrerin auf serbischem Territorium nicht arbeiten darf. Sie antwortet auf Ismars Frage, das Taxischild sei nur im Verwaltungsbezirk Sarajevo gültig. Jedes Mal, wenn sie den Stadtbezirk verlässt, muss sie es entfernen, ob in einer serbischen oder bosnischen Gemeinde, spielt keine Rolle.

[1] siehe: https://www.welt.de/politik/deutschland/article118614228/Als-Kohl-die-Haelfte-der-Tuerken-loswerden-wollte.html; Seite aufgerufen am 5.8.2018

Aus dem Französischen übersetzt von Odile Kennel.

Pascal Richmann

Pascal Richmann

Die Namen von Sarajevo
OK, zuerst passierte etwas, das mir bis dahin noch nie passiert war. Im Terminal 2 des Franz-Josef-Strauß-Flughafens ergoogelte ich gerade Zitate des Namenspatrons, als über meinem Kopf die Lautsprecher knisterten, Mr. Richmann, sagte eine Frau auf Englisch, bitte zum Schalter soundso, dallidalli, hopphopp, sagte sie und riss einen Joke, den ich zwar vor lauter Schreck sofort wieder vergaß, der aber die Reisenden mit Ziel Rimini, die um mich herum lagen, standen oder Räder schlugen, dazu brachte, auf ihren Sektflöten augenblicklich einen Blues anzustimmen.

Ob es für mich in Ordnung sei, am Notausgang zu sitzen, fragte die Lufthansafrau, ich müsse ihn nämlich, im Falle eines Falles, eigenhändig öffnen, ob ich mir das zutraue, wollte sie noch wissen, aber da hatte ich schon zu nicken begonnen, obwohl ein Notfall für mich natürlich keinesfalls OK gewesen wäre, doch man soll ja, so viel wusste ich über das Fliegen, die Leute in ihrer Absturzparanoia nicht dadurch bestärken, dass man die eigene zugibt, weshalb ich also schwieg und als erster die Maschine bestieg.

2009 nehmen wir – meine Frau und ich verbringen die Flitterwochen in Ex-Jugoslawien – als Mr. und Mrs. Marienfeld einen Zug nach Sarajevo. In meiner Erinnerung ist der Bahnhof aufgrund seiner hohen, steinernen, die Gleisbette einfassenden Wände eins geworden mit jenem in Engels’ Geburtsort Wuppertal, an dem uns, Wochen bevor wir aufgebrochen sind, die Nachricht vom Tod Michael Jacksons erreichte.

Am Flughafen von Sarajevo empfingen mich Ismar, Kopf und Kurator des Ausflugs, und sein Freund Jasko, der einen Mitarbeiterausweis um den Hals trug und anbot, das Gepäck in seinem Büro abzustellen, was ich des leichten Rucksacks wegen, der mir seit der Passkontrolle über einer Schulter hing, dankend ablehnte. Dunkle, tiefhängende Wolken verbargen die Hügel ringsum, algengleich bewegte sich an ihren Hängen das Grün.

Weil ich vor meinem letzten Flug im Dezember 2017 versucht habe, im Rucksack einen Christmas Pudding nach Deutschland zu schmuggeln, blättert ein Beamter jede Seite der ausgelesenen Bücher einzeln um. Als er die Sebald-Gesamtausgabe, mit der mich ein Trödler aus der Portobello Road vertrieb, durchgesehen hat, greift der Beamte Der Engel schwieg heraus, liest mit britischem Akzent den Titel vor und fragt, ob dies ein Text über den Kommunismus sei.

Durstig spazierten wir durch Dobrinja, dieses an die Landebahn grenzende Viertel, von dem Ismar erzählte, in letzter Zeit seien viele junge Familien hergezogen – und da saßen wir auch schon in einem der pappmachéphilen Cafés mit den pastellfarbenen Wänden, um bei einem Gläschen Limo Olivers Ankunft zu erwarten; Schülerinnen, Mütter und Männer auf Montage.

Dobrinja, © Pascal Richmann

Bald rührte ich in der zweiten Brause und sprach Ismar, die gute alte Höflichkeit für einen Moment vergessend, auf seinen Namen an – denn Namen sind es ja, wofür ich mich interessiere. Für die Dauer einer Drina freuten wir uns, dass man im Sozialismus die Namen Ismet und Marija zu einem verschmolzen hatte. Und weil ich von all dem natürlich kaum eine Ahnung habe, und auch, weil selbst die nichts daran geändert hätte, dass vieles in meinem Reden bloße Anmaßung geblieben wäre, sprangen wir, wie man sagt, vom naheliegenden Holz zum allgemeineren Stock, kamen nämlich auf die DDR und ihr Gesetz über die Unterbrechung der Schwangerschaft zu sprechen – Reaktion in Zeiten des Umbruchs, dachte ich, weil doch viel zu selten ohne geschichtsklitternden Anklang gesagt wird, dass nicht alles schlecht gewesen ist, eine Aussage, die eben nicht Eva H. hinter ihrem Herd hervor holt, weil Autobahnen und Frauenrechte ja zwei völlig verschiedene Dinge sind (und Hufeisen auch als politische Theorie unter den Galopp der Pferde gehören), selbst wenn die Trucker Babes der gleichnamigen Reality-Show eine andere Meinung vertreten –, sprachen also über Feiertage, Zigaretten, Zirbelnüsse, den Palast der Republik und die Skenderija, ein unter Tito erbautes Kulturzentrum, von dem Ismar sagte, die Stadt wolle es wahrscheinlich abreißen.

Skenderija, © Pascal Richmann

Von der Rückbank des Taxis aus sahen Oliver und ich das Olympische Dorf vorbeiziehen, blassrosa sanierte, sechsstöckige Blocks, in denen die Sportlerinnen und Sportler 1984 zum ersten Mal nicht nach Geschlechtern getrennt untergebracht waren, dann jene nach dem saudischen König Fahd ibn Abd al-Aziz benannte Moschee, die, solange in Tirana noch gebaut wird, die größte des Balkans ist. Der Taxifahrer bog auf die Zmaja od Bosne ein und folgte ihr entlang des Flusses, bis die Zwillingstürme und das Parlamentsgebäude hinter der Frontscheibe auftauchten. All die Fotos und Videos, die von ihren brennenden, ausgebrannten Vorgängern seit 1992 gedruckt und ausgestrahlt wurden, dachte ich, waren auch insofern Matrizen, als dass neun Jahre später die Ausformung einer kollektiven Empathie in Echtzeit ohne mediale Testläufe kaum funktioniert hätte. Das andauernde Jetzt, das simultane Jahrzehnt, es hatte während der 1425 Tage von Sarajewo begonnen und am 11. September geendet, dachte ich noch, als sich das ehemalige Holiday-Inn, das heute schlicht Hotel Holiday heißt, ins Bild schob – und da fühlte ich mich gleich mal ertappt, weil die Zeichen der Belagerung eben noch immer die bequemste Lesart dieser Stadt sind, weil ich über sie und den Krieg nichts hatte sagen wollen, außer vielleicht, dass an meinem achten Geburtstag auf dem Markt von Sarajevo 37 Menschen durch eine Mörsergranate gestorben waren.

Nach dem Check-in liefen wir eine Runde um den Block, Kaffee hier, konvertible Mark dort, bevor wir bei Slaviša vorbeischauten, in dessen am Mali-Park gelegener Wohnung die Lesung stattfinden sollte. Es war ziemlich gemütlich, Teppiche und schmiedeeisernen Nippes hatte er bis in die letzten Ecken verlegt, an den unverputzten Wänden hingen Fotos seiner verstorbenen Dichterfreunde. Slaviša bot uns, wie hätte es anders sein können, einen Schnaps an, und so staunte ich mit einem Gläschen in der Hand über die Aussicht, die bis zu den Bergen im Südwesten reichte. Einige Gipfel waren noch immer von Schnee bedeckt. Östlich von mir baumelten die Gondeln der vor zwölf Tagen wiedereröffneten Seilbahn den Trebević hinauf. Auf der Maršala Tita bewegten sich Autos stockend, aber beständig im Feierabendverkehr, derweil ihre Fahrerinnen bei heruntergelassenen Fenstern die gleichnamige Hymne sangen. Dann: das ewige Feuer der Partisanen am Eingang zur kaiserlich-und-königlichen Fußgängerzone, Stellvertreter Wojtyła vor der Herz-Jesu-Kathedrale, der Übergang zur osmanischen Altstadt, die Begova-Moschee, die fünfhundert Jahre lang die größte des Landes gewesen war, schließlich die Baščaršija, ihr Zentrum.

2009 beziehen meine Frau und ich überhalb der Baščaršija ein Zimmer. Ismet, unser Gastgeber, erzählt vom ostwestfälischen Gütersloh, Reisebestimmungen, der Flucht, erzählt, während wir in seinem Garten sitzen und Ziegenmilch aus Tetra Paks trinken, vom dortigen Fußballverein, für den er in der Regionalliga gespielt habe, erzählt, die Simultanität im Blick, von Edin Džeko, der vor zwei Jahren nach Wolfsburg gegangen sei, um zu einem der besten Stürmer Europas zu werden, erzählt also, dass Džeko, Jahrgang 86, hier das Fußballspielen gelernt habe. Eines Nachmittags sei der Junge von seiner Mutter ins Haus gerufen worden, und dort, wo er gerade noch gespielt habe, seien die anderen Kinder von einer Granate zerfetzt worden. Ismet steht auf, tritt von der Terrasse und aus dem Schlagschatten seines Hauses hinab auf die Wiese, zeigt auf ein Beet, in dem Gurken wachsen, dort sei auch eine eingeschlagen, sagt er, macht zwei, drei Schritte in die Mittagssonne, blinzelt, zeigt auf die Tomaten, die Paprikas, dann kommt er zurück, setzt sich in seinen Gartenstuhl und reißt eine Dose Cola auf.

Warum nur, fragten Oliver, Ismar und ich uns, als wir in der Altstadt Ćevapi aßen, hatte Deutschland für sie den Diminutiv eingeführt; warum nur, waren die Speisen hier auch in arabischer Schrift angeschlagen (die Antworten, das weiß ich nun, da ich diesen Text schreibe, haben in beiden Fällen mit den Vororten Palma de Mallorcas zu tun), dann gingen wir ins Hotel Astra, um etwas Süßes zu finden, ein Dessert zum Beispiel, und sprachen über Literatur – denn Literatur ist es ja, wofür wir uns interessieren. Bald kamen wir auf Sebald, einen Autor, den wir alle mochten, oder, im Falle Olivers, einmal gemocht hatten. Ismar erzählte von seiner ausstehenden Arbeit zu Raum und Intertextualität in W. G. Sebalds Die Ringe des Saturn, und Oliver von seinem Eindruck, Sebald habe alles witzige, alles erotische, all das, was ihm nicht melancholisch genug erschienen sei, aus seiner Prosa herausgestrichen. Ismar wand ein, es gebe durchaus Lustiges, grad zum Beispiel müsse er an die Stelle mit den Heringen denken, das sei doch brutal witzig, sagte Ismar, wie Sebald seitenweise über den Hering und die Heringsschwemme schreibe, die bekanntlich, er zitiere jetzt, die gesamte Heringsfischerei in einer geradezu katastrophalen Situation zurückgelassen habe, trotz, nein!, gerade wegen schlaraffenlandgleicher Zustände an Europas Küsten, denn von Fisch allein, sagte Ismar, könne ein Fischer eben nicht leben, deshalb hätten doch überhaupt erst zwei englische Wissenschaftler mit den seltsamerweise zu ihren Forschungen passenden Namen Herrington und Lightbown versucht, den toten Körper des Herings, der ja, er zitiere erneut, an der Luft zu leuchten beginne, zwecks einer totalen Illumination unserer Städte zu nutzen – und als sei das alles nicht schon lustig genug, fügte Ismar hinzu, arrangiere Sebald im Text auch noch die Zeichnung eines Fisches, die jeden anderen, aber ganz sicher keinen Hering zeige, denn wie so ein Hering aussehe, das werde ja schließlich lang und breit beschrieben. „In Wahrheit wissen wir nichts von den Gefühlen des Herings“, warf Oliver jenen Satz in die Runde, der über dem Fischbild geschrieben steht, und da lachten wir über die unbestreitbaren Vorteile einer fiktiven Vergangenheit, und freuten uns über den seltenen Joke, der mir letztlich auch nur ein kaum nennenswerter Rückschlag in der sonst unaufhaltsamen Verdrängung der Finsternis zu sein schien.

Einmal bei Sebald angelangt, spazierten Oliver, Ismar und ich nun über die Lateinerbrücke tiefer in Die Ringe hinein: „Ein besonderer Abschnitt ist den chaotischen Verhältnissen auf dem Balkan gewidmet, einer Weltgegend, die von England damals weiter entfernt war als Lahore oder Omdurman. Seite um Seite reihen sich da Abbildungen von versprengten Bevölkerungsteilen und von Einzelpersonen, die dem sogenannten Kriegsgeschehen auszuweichen versuchen mit Ochsenkarren in der Hitze des Sommers über staubige Landstraßen oder zu Fuß durch Schneeverwehungen, mit einem zu Tod schon erschöpften Pferdchen. Vorangestellt ist dieser Unglückschronik naturgemäß der weltberühmte Schnappschuß von Sarajevo. Princip Lights the Fuse! steht über dem Bild. Es ist der 28. Juni 1914, ein sonnenheller Tag, um zehn Uhr fünfundvierzig“ – und weil das post meridiem auch diesmal stimmte, schüttelten wir uns jetzt also die Hände und sagten bonne nuit.

Da war sie endlich, die Sonne, am nächsten Morgen, als ich neben unserem Hotel in einer Bar einen jutarnja kafa trank, den ich wegen des abwesenden, auf meinem Zimmer ladenden iPhones und eindeutiger Zeichen (erhältlich ausnahmslos zwischen acht und zehn Uhr, was, OK, nicht stimmte, war ich für ihn doch eigentlich fünf Minuten zu spät), den ich also solange für Filterkaffee gehalten hatte, bis er mir serviert wurde und ich sah, dass der Kafa in Wirklichkeit Espresso war!, kurz und stark und mit Crema obendrauf, die ja keinesfalls verwechselt werden darf mit jener, die aus deutschen Vollautomaten quillt; Mašallah, ein ganz normaler Espresso, gelistet unter einem Namen, den mir Ismar gleich als Morgenkaffee übersetzen sollte, und der wohl einzig darauf verwies, dass ich für ihn nur eine Mark fünfzig hätte zahlen müssen, anstatt zwei.

2009 kostet alles eine Mark. Der Espresso und die Drinas, die uns in den Mundwinkeln klemmen, selbst die Salami, die ein Zöllner kurz hinter der bosnischen Grenze akzentfrei als Bratwurst identifiziert, kostet eine Konvertible Mark – ob wir außer ihr auch was anderes, was zum Kiffen dabei hätten, fragt er und schwenkt seinen Stempel durchs Abteil, und während meine Frau und ich noch mit vollen Mündern die Köpfe schütteln und abgeerntete Felder vor dem Fenster vorbeiziehen, wühlt der Zöllner schon im Rucksack, aber da ist nichts, draußen nicht und zwischen den Unterhosen auch nicht, nur die Wurst und unsere Reisepässe, in die er schließlich seine tintenfeuchte Faust hinabsausen lässt.

An einer Schwelle im Fluss war ein Müllstrudel entstanden, das Plastik hüpfte auf und ab, als wir die jüngste, von Kunststudentinnen als Skatepark-Zitat konzipierte Brücke überquerten. Die Skenderija war dann tatsächlich der angekündigte Spitzenort, Haus der Jugend, Kunstmuseum, davor ein weitläufiger Platz, weswegen auch ich gleich mal gegen ihren Abriss sein wollte und also fragte, ob Sarajevo sich hier nach Feierabend zu Limo oder Bier verabrede, der öffentliche Raum, die schönste Kneipe von allen, aber da meinte Ismar, die Regierung habe erst kürzlich verboten, auf Straßen und Plätzen Alkohol zu trinken, New York, London, Tokio. Dann: Calles Twins, Beuys’ selbstgepresstes Olivenöl, und auf Video, Gebeine waschend, Abramović – Arbeiten, die im Zuge einer Solidaritätsbekundung zu Beginn der Belagerung im damals wie heute provisorischen Ars Aevi gelandet waren, denn klar: The Artist is present. Susan Sontag hingegen, die 1993 im Nationaltheater Warten auf Godot inszeniert hatte, war (neben anderen) vom bosnischen Autor Ivan Lovrenović vorgeworfen worden, sie betreibe Kriegstourismus: „Nie ist in Friedenszeiten eine größere Menge verschiedenster Menschen in diese Stadt gekommen, alle schaffen sie es, irgendwie nach Sarajevo und wieder herauszukommen. Sie tun, was den Bürgern Sarajevos verwehrt wird.“ In Das Leiden anderer betrachten schreibt Sontag: „Die Meinung, daß gegen den Krieg in Bosnien etwas getan werden müsse, erwuchs aus der Aufmerksamkeit von Journalisten, die mehr als drei Jahre lang Abend für Abend Bilder aus dem belagerten Sarajevo in Millionen Wohnzimmer befördert haben.“ An anderer Stelle heißt es: „In Sarajevo konnte man es in den Jahren der Belagerung bisweilen erleben, wie während eines Bombardements oder bei heftigem Scharfschützenfeuer ein Einwohner der Stadt den an ihrer Ausrüstung leicht erkennbaren Fotojournalisten zurief: ‚Wartet ihr auf einen Einschlag, damit ihr ein paar Leichen fotografieren könnt.‘“ Ismar sagte, er wisse nichts von einer Kontroverse um Sontag, nach der heute immerhin der Theatervorplatz benannt sei, als wir gerade über die Suada Dilberović und Olga Sučić gewidmete Brücke zum Café Tito spazierten, wo er zwischen Panzern, Devotionalien und blühendem Buschwerk davon erzählte, wie ihm synchronisierte Animes, allen voran Dragon Ball Z, Deutsch beigebracht hätten – Heidi und die japanische Sicht auf die Alpen, mit der wir aufgewachsen waren.

Café Tito, © Oliver Rohe

Früher (viel früher) oder zur selben Zeit sitze ich neben meiner Großmutter in einer Tram, die, ganz U-Bahn, das Historische Archiv und den Dom untergräbt, und die, endlich am Niehler Ei angekommen, bloß noch Straßenbahn sein wird. Ich verinnerliche den öffentlichen Nahverkehr, lese die Stationen, die Piktogramme, die Fliesen an den Wänden, als sich uns entgegen der Fahrtrichtung eine Mutter mit ihrem Kind gegenübersetzt. Der Junge, der ungefähr so alt ist wie ich, blickt mich an, versucht mit aufgerissenen Augen etwas zu sagen, vielleicht, er sei aus Jugoslawien geflüchtet, wie meine Großmutter antworten wird, sobald wir die Tram verlassen und ich gefragt habe, ob jetzt der Dritte Weltkrieg beginne – versucht also zu sprechen, formt aber die Laute, die seine Stimmbänder ächzend in die Mundhöhle hieven, nicht aus, weil ihm, wie meine Großmutter jetzt erklärt, aus ihr die Zunge herausgeschnitten wurde. Als ich an diesem Abend einschlafe, liest sie mir aus Stern in der Ferne vor: „Einer der Gefangenen, der Norberto hieß und im Begriff stand, verrückt zu werden, versuchte, auf den Zaun zu klettern, der den Hof der Männer von dem der Frauen trennte, und begann zu schreien: eine Messerschmitt 109, ein Messerschmitt-Jäger der Luftwaffe, der beste Jäger von 1940. Ich schaute ihn scharf an, ihn und danach all die anderen Häftlinge, und alles schien in ein durchscheinendes Grau getaucht, so als würde sich das Lager La Peña in der Zeit auflösen. Der verrückte Norberto krallte sich wie ein Affe an den Zaun, lachte, rief, der Zweite Weltkrieg sei auf die Erde zurückgekehrt, sie hätten sich getäuscht, die den Dritten erwartet haben, es sei der Zweite, der wieder- und wieder- und wiederkehre.“

Nachdem wir auf Dachterrasse des BBI Centars – eine zu 99,97 Prozent von der Islamischen Entwicklungsbank finanzierte Mall gegenüber des Stadtparks – Florian und Nicolas, die Moderatoren der Veranstaltung am Abend, getroffen hatten, stiegen Oliver, Ismar und ich in einen Fahrstuhl, hinter dessen gläsernen Wänden bereits zwei Frauen warteten, die ältere um die siebzig, die andere in einem Alter, dass sie ihre Tochter hätte sein können. Mit rosa Kostüm und passendem Hut stand die Großmutter vor mir und blickte, war sie doch sehr zierlich und klein, kritisch an mir herauf. Die jüngere Frau hielt mehrere Plastiktüten in den Händen, mit ihrem Ellbogen drückte sie gerade den untersten Knopf, als sich zwei junge Typen hinein drängelten, der eine glatzköpfig und gedrungen, der andere massig und groß, weswegen die Großmutter in die entstandene Enge des Fahrstuhls fragte, ob wir denn nicht spätestens jetzt zu viele seien. Er habe da eigentlich keine Bedenken, sagte der kleine Glatzkopf, während der Massige, der sich neben die Großmutter gestellt hatte, zu mir hinabblickte; die Hierarchien so klar, als zöge man Streichhölzer. Weil sie im Krieg verwundet worden sei, habe sie Platzangst, sagte die Großmutter und blickte geradeaus in eine Leere, die zugleich mein Brustkorb war. Die Türen schlossen sich. Gott werde uns beschützen, sagte die Glatze, als wir losfuhren, aber so einen Quatsch wollte sich die Großmutter jetzt nicht erzählen lassen: „Nema Boga, da ima Boga, ne bi bilo rata“ – Gott könne gar nicht existieren, denn existiere er, hätte es jawohl kaum Krieg gegeben. Deshalb also sei sie verwundet worden, konterte der Typ geschickt, während der Fahrstuhl weiterfuhr und die Jüngere abgewandt Flüche vor sich hin murmelte. Als wir im Erdgeschoss ankamen, setzte der freche Glatzkopf eine Grimasse auf: „Eto vidiš nano da ima Boga, stigli smo čitavi“ – ob sie ihm denn nun glaube?, es gebe einen Gott, oder seien wir etwa nicht allesamt putzmunter, und da fing die Großmutter zu lachen an, nein nein, sagte sie, keinen Gott, ausschließlich Bärte.

Unsere Lesung bei Slaviša machte dann schon voll Spaß. Oliver beantwortete die Frage, ob er und ich uns denn bisher gut verstanden hätten, kopfnickend damit, dass wir beide keine Demokraten seien. Fing die Glühbirne über meinem Kopf zu flackern an, versetzte unser Gastgeber ihr unauffällig einen Stoß, derweil ich den Ausflug hierher mit einem Cross-Mapping meiner Erinnerung zu erklären versuchte. Später erzählte Oliver, Michail Kalaschnikow (über den er einen witzigen und irritierend traurigen Text geschrieben hatte) sei, wenn ich die Dolmetscherin richtig verstand, ein moralischer Trottel gewesen – darauf angesprochen, wie er, Kalaschnikow, es finde, dass seine größte Erfindung inzwischen eher von Terroristen als für die Vaterländischen Kriege genutzt werde, habe er zwar rumgedruckst, letztlich jedoch nicht ohne Stolz gemeint, sein MG sei nunmal das Beste, basta – da helfe es wenig, sagte die Dolmetscherin, habe Oliver gesagt, dass er mitunter auch mal ein Gedicht verfasst habe, Gedichte, seufzte der Autor auf Französisch, weshalb ich sofort an Oppenheimer denken musste, der ja ebenfalls Dichter gewesen war und nach Einsatz seiner wichtigsten Erfindung aus der Bhagavad Gita zitiert hatte: „Now I am become death, the destroyer of worlds“, habe er nämlich gesagt, sagte ich, und so ging es noch eine Weile hin und her, zwischen Oliver und mir, unseren Dolmetscherinnen und einem Mann im Publikum, der immer mal wieder kritisch nachhakte, und einmal, ich hatte mich gerade laut und etwas unsinnig gefragt, ob es wohl etwas zu bedeuten habe, dass Thatcher simultan zu Kalaschnikows MG das Softeis erfunden habe, als sich der Mann meldete, er erzähle jetzt einen Witz, aufpassen, auf deine Sachen!, dachte ich noch, aber da kam er auch schon zur Pointe, ob die Thatcher denn überhaupt gewusst habe, fragte er, dass so ein Softeis etwas sei, an dem man lecken müsse.

Nach der Lesung stand ich noch ein bisschen an der Bar und sah zu, wie sich Ismars Freunde und ehemaligen Kommilitonen unter die übrigen Gäste mischten, als mich eine Frau aus dem Publikum auf Englisch ansprach; wenn sie uns richtig verstanden habe, sagte sie, sei das, was Oliver und ich schrieben, Fiction, die erst der Geschichte selbst wegen, zu Non-Fiction werde; und das war natürlich spitze, hier in Sarajevo eine Frau zu treffen, die alles über die Krimidichtung zu wissen schien; und so kamen wir alsbald auf unsere Lieblingsautoren, sie sprach von Dževad Karahasan, die Poetik des Erzählens und die Poetik der Ruine seien für ihn geistige Zwillingsschwestern, erklärte sie, aus der Rede der Ruine, aus der Rede der Erinnerung, die das Geschehen ungenau bewahrt habe, rekonstruiere Karahasan das mögliche (das wahrscheinliche) Leben abwesender, ferner, unsichtbarer, womöglich schon verstorbener oder niemals geborener, doch liebgewonnener Menschen, schloss die Frau ihr Impulsreferat, woraufhin mir gleich mal Lichtenberg und seine Experimentalphysik einfielen, Literatur, sagte ich, habe Lichtenberg als deren Entsprechung verstanden, um durch die Sprache selbst etwas zu finden, dass in einer möglichen Zukunft verborgen liege, ein Lichtschalter, der Piccadilly Circus oder jenes schwimmfähige, Michail Lomonossow gewidmete Atomkraftwerk, das bald im sibirischen Pewek eröffnet werde; und so kamen wir auf meinen Namensvetter, Georg Wilhelm Richmann, der ja, glaubt man Lomonossow, des herrlichsten Todes gestorben sei, nur weil ihn während eines Experiments der Blitz erschlagen habe, zhit’ pistoletom, umeret’ ot pistoleta, habe Lomonossow gesagt, sagte ich, bevor die Frau (bisschen unerwartet, OK) zum Abschied sagte: „Sebald war nicht bloß ein Elegiker, er war ein militanter Elegiker.“

Ich wollte gerade ins Hotel aufbrechen, als Jasko mir einen Drink mit Schirmchen drin in die Hand drückte. Wir plauderten über seinen Job am Flughafen, europäische Zugmodelle und darüber, dass er der ausbleibenden Zugehörigkeit wegen kaum in EU-Ländern arbeiten könne. Es stimmte also, dachte ich, Bosnien war gewissermaßen noch immer weiter entfernt als Lahore oder Omdurman, obwohl doch so viele von denen, die um mich herum saßen und standen und mit ihren Getränken anstießen, ihre Kindheit und Jugend zur gleichen Zeit am selben Ort wie ich selbst verbracht hatten. Aber hey, dachte ich, Jasko könnte ja auch sparen und von diesem Geld eine Bulgarin heiraten, um dann nach Resteuropa auszureisen, fair enough, dachte ich und zog die Socken in meinen Sandalen hoch.

In dieser Nacht träumte ich, Susan Sontag sitze vor einer Bankfiliale auf der Parkbank meines Vertrauens und lade mich mit eindeutiger Geste dazu ein, ihr auf den Schoß zu klettern. Schön, dass du Künstler geblieben bist, sagte sie und wiegte mich in den Armen wie ein Kind.

Bauarbeiter hatten der Bar nebenan das Wasser abgedreht, aus feingeäderten Augen blinzelte ich in die Sonne, wünschte mir einen Kafa und dachte noch einmal an Kohl, über den ich schon am Abend zuvor ins Schwallen geraten war, weil er ja bereits in den Achtzigerjahren des letzten Jahrtausends zwei Drittel aller in Deutschland lebenden Türken in die Türkei hatte zurückschicken wollen, ganz andere Kultur, waren seine Worte gegenüber Thatcher gewesen, obwohl er natürlich ganz andere Religion gemeint hatte, dachte nämlich daran, wie arg Kohls schwule Reinkarnation vor zwei Jahren darüber in Rage geraten war, dass manch ein Lümmel von Moslem in unseren schönen McFits mit Badehose dusche, dachte also daran, dass weder Spahn sich vorstellen konnte, wie ein Hamam von Innen und ein beschnittener Schwanz von außen aussahen, noch ein europäisches Land mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung allzu fix und offiziell zu Europa gehören würde, dachte auch an die Omi und den Glatzkopf, deren Elevator Speech uns Ismar, der in diesem Moment zwischen den Schiebetüren des Hotels hinaustrat, noch auf dem Vorplatz der Mall übersetzt hatte.

Zusammen mit Oliver und Nicolas fuhren wir zum Vraca Memorial Park, in dessen Pyramide das ewige Feuer spätestens erloschen war, als die Armee der Republika Srpska von jenem Hügel, auf dem wir nun aus einem Taxi stiegen, die Stadt beschossen hatte. Buschwerk verdeckte Teile der alten Wegführung; an den Wänden einer österreich-ungarischen Befestigungsanlage, die von Titos Architekten in die Konzeption des Denkmals integriert worden war, fehlten die Namen der im Zweiten Weltkrieg ermordeten Zivilisten inzwischen fast vollständig; vereinzelt bedeckten die Buchstaben, aus denen sie einmal bestanden hatten, den Boden im Inneren der Burg.

Gedenkpark Vraca, © Oliver Rohe

Als wir an den Gedenksteinen für berühmte Partisanen standen, begann Nicolas von Vladimir Valter Perić zu erzählen, 1972 sei von Hajrudin Krvavac der Film Valter brani Sarajevo gedreht worden, sagte er, der auf dem Mythos beruhe, dass Perić die Deutschen und alle anderen in Bosnien befindlichen Faschisten unter seinem Spitznamen an den Nasen herumgeführt habe, in der Schlussszene jedenfalls spazierten oberhalb der Stadt einige Nazis durchs Grün, ein Standartenführer, ein Agent mit Hut und so fort, seit er in Sarajevo sei, sage der SS-Mann, sagte Nicolas, suche er nun schon Walter und finde ihn nicht, doch jetzt, wo er gehen müsse, wisse er, wer Walter sei – und sofort reagiere der Agent sehr aufgeregt: „Sie wissen wer Walter ist? Sagen Sie mir sofort seinen Namen“, rufe er, rief Nicolai, aber der Standartenführer denke gar nicht daran, weil der Witz eben darin bestehe, dass er auf Sarajevo hinab deute: „Das ist Walter“, eine Moral, die Regisseur Hajrudin Krvavac zusätzlich mit Fanfaren und einem finalen Schwenk über die Altstadt unterstreiche. Dann: Ein Denkmal für Tito und eins für alle Partisaninnen – doch seitdem Diebe der Frauenbronze, die repräsentativ für alle Frauen stehe, den rechten Arm abgesägt hätten, recke sie bloß noch ihren linken des Sieges wegen empor, was Oliver und mich auf die liebe Faust der Solidarität brachte und Nicolas zur Pointe seiner Eins-A-Anekdote, bei einer Hausdurchsuchung, die zuerst nichts mit der Schändung zu tun gehabt habe, sei die Polizei zufällig auf den abgesägten Arm gestoßen (in einem Schrank, unter einem Bett?); und nun werde er zwar im Museum verwahrt, aber niemand wisse so recht, ob man ihn wieder anschweißen solle oder nicht.

Über den jüdischen Friedhof liefen wir zurück in die Stadt, sahen einer Spinne beim Lunch zu, während auch wir das unsere aßen, passierten, nun wieder zu dritt, die in der osmanischen Altstadt gelegene Sarajevsko Brauerei, in der neben dem namensgebenden Bier auch das leckere Oettinger für den gesamten westlichen Balkan gebraut wird, und gelangten schließlich zur Seilbahn. Unter unserer Gondel lagen die Vororte als verdammtes Idyll in der Nachmittagssonne. Die sieben Minuten und fünfzehn Sekunden vergingen dann wie im Flug. Als wir über das ehemalige Olympiagelände spazierten, fotografierte Oliver mit seinem Smartphone einen der Ausblicke ins Tal.

Trebevic, © Oliver Rohe

Die Zigarette, die ich mir währenddessen angezündet hatte, musste ich des gar nicht mal so steilen Aufstiegs wegen kurz darauf wieder löschen. Noch immer auf der Suche nach etwas Süßem, einem Stück Kuchen zum Beispiel, kehrten wir dann ins Pino Nature Hotel ein, setzten uns auf die Sonnenterrasse und sprachen über Sebald – denn Sebald ist es ja, für den wir uns interessieren. Rings um die Lichtung wog sich der Mischwald im Wind und Phil Collins sang ein Lied, als ich begann, über die Wikipedia zu sprechen, das weiße Toast des Westens, sagte ich, Sebalds Eintrag in der deutschen sei jedenfalls heiß umkämpft, darin ähnle er zum Beispiel jenen zu Eintopfsonntag und Wuppertaler Schwebebahn: „Das Buch Die Ringe des Saturn (1995) – dem Untertitel nach eine englische Wallfahrt – ist ein Reisebericht. Der Ich-Erzähler wandert in melancholischer Stimmung durch die englische Grafschaft Suffolk. Das Buch ist allerdings tatsächlich kein Reisebericht“, heiße es dort etwas kryptisch, erzählte ich, weswegen ich also gleich mal die Diskussionsseite angeklickt habe. „Der Artikel liest sich teils werbeorientiert, teils subjektiv beeindruckt und dabei selbstvergessen, Informationen über Sebald und ihn hervorhebende (‚promotende‘) Attribute stehen dicht gedrängt zusammen. Eine Struktur, die weniger für sich stehende Wichtigkeits-Behauptungen aufstellt, wäre toll. Siehe z.B.: ‚[…] – in beiden Ländern besitzt Sebald inzwischen Kultstatus – und Frankreich große Aufmerksamkeit fand. Dort wurde Sebald zuletzt sogar als Kandidat für den Nobelpreis gehandelt. Ab Mitte der 1990er Jahre wurde auch die deutsche Literaturkritik auf ihn aufmerksam. Er hat ein schmales, höchst eigentümliches, ganz und gar originelles Oeuvre hinterlassen. W.G. Sebald ist einer der meistdiskutierten Autoren in der Germanistik. Sein Werk spricht zentrale Themen gegenwärtiger kultureller Debatten an und verarbeitet sie in innovativer Weise‘ – Hier scheint nur ab und zu eine Enzyklopädie durch“, habe KaJin 2009 seine Kritik am Artikel begründet, setzte ich den Wiki-Exkurs fort, nur um darin sieben Jahre später von einer namenlosen Nutzerin unterstützt zu werden: „Ja, stimmt. Unter Germanistikstudenten wird inzwischen schon mit den Augen gerollt, wenn man ihnen ‚schon wieder‘ mit Sebald kommt. Es scheint mir aber eine starke Diskrepanz zwischen der fast schon manischen Dauerbeschäftigung der Literaturwissenschaft mit seinem Werk und seiner geringen allgemeinen Bekanntheit zu geben“, sei nämlich von ihr abschließend vermerkt worden, versuchte ich den Stand der Debatte, nun selbst zunehmend konfus, zusammenzufassen, und da rollte auch Ismar mit den Augen und Oliver nippte an seinem Wasserglas, weshalb ich also fix den melancholischen Autor selbst zitierte, vielleicht, sagte ich, verliere ein jeder von uns den Überblick genau in dem Maß, in dem er fortbaue am eigenen Werk, und vielleicht neige man aus diesem Grund dazu, die zunehmende Komplexität der eigenen Geisteskonstruktionen zu verwechseln mit einem Fortschritt an Erkenntnis, während man zugleich schon ahne, daß man die Unwägbarkeiten, die in Wahrheit die eigene Laufbahn bestimmten, nie werde begreifen können.

Später kamen wir am Haus des Trotzes vorbei. Es heiße so, sagte Ismar, seitdem dort, wo es früher einmal gestanden habe, das pseudo-maurische Rathaus gebaut worden sei, und der ansonsten nicht zum Verkauf seines Grundstücks zu bewegende Besitzer darauf bestanden habe, dass Österreich-Ungarn es Stein für Stein abtrage, und auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses neu errichte – und da fiel mir wieder der Palast der Republik ein, die Regierung, sagte ich, habe während eines allegoriegeilen Anfalls verordnet, aus seinem eingeschmolzenen Stahl VW-Motoren zu gießen, nun ja, sagte ich, das Herz eines Volkes sei nun einmal ein tiefer Ozean voller Geheimnisse.

Ohne zu verstehen, was Inat kuća bedeutet, sitzen meine Frau und ich unterhalb des Hauses und spucken Kirschkerne in die Miljacka, klar, Ms. Stein, Dining is west; nehmen die Epiphanie des Namens hin, da wir nicht um sie wissen. Die Rosen von Sarajevo, von denen Nicolas neun Jahre später erzählen wird, sehen noch aus, als habe die lokale Antifa mit Farbbomben hantiert. Und wie es so ist, wenn ein Honey Moon über den Ländern hängt, sind wir aus kroatischen Küstenstädten gekommen, wo Kronleuchter von den Decken baumeln, und wie es also ist, fahren wir bald durch montenegrinische Mondlandschaften bis Skopje, wo Kenzo Tange zum Trotz Chloride in den Brunnen blühen, und weiter nach Prishtinë, OK, Priština, um dort unser Date mit Bill Clinton zum Dinner nicht zu verpassen (Lachs im Hemingway – It was peculiar bin a bin fond in beside) und, die Zahnstocher noch zwischen den Zähnen, einen Bus nach Belgrad zu besteigen, aus dem wir jedoch wenige Minuten später von serbischen Zöllnern hinausgebeten werden, dallidalli, hephep, sagen sie, weil sie uns einer unsichtbaren Grenze wegen keine Stempel in die Pässe stempeln wollen.

Als er vorhin den Blick ins Tal gepostet habe, erzählte Oliver beim Abendbrot, sei eine Diskussion darüber losgegangen, ob ein Foto aus Ex-Belagerer-Perspektive klargehe oder nicht, und wer so ein Foto überhaupt schießen dürfe, und da stellte ich mir gleich mal jemanden vor, der mit meiner Biografie auf die hiesigen Hügel klettern würde, die zehn Anti-Kriegs-Konzepte zu empfangen – jaja, sowas hätte keinen Sinn, natürlich nicht, während doch ein Foto vom alten Olympiagelände, überlegte ich nun laut, zuallererst von einer wiedereröffneten Seilbahn erzähle, von Normalität also, was so verkehrt gar nicht sein könne. Die Verteidigung der Wirklichkeit ist ja zugleich auch ihre andauernde Erschaffung!, dachte ich, und Sebalds Werk ein Monolith, der gerade seiner Melancholie wegen daran erinnert, dass Ermittlungen in ihr, dieser Wirklichkeit, gelingen, haben sich doch nur die äffisch an ihm, dem Monolithen, herumturnenden Typen in Bezug auf das Material, mit dem sie arbeiten, nicht unter Kontrolle, wählen doch nur sie darin aus, ganz so, als gäbe es diese Wahl oder eine Käsetheken-Situation, Gouda, Gorgonzola, Gramsci, anstelle eben jener Konsequenz, die fortbaut am eigenen Werk und gerade deshalb vergebens sein mag, OK, sich aber nichts anmaßt, vor allem nicht den Glauben, sie könnte auf alles zurückgreifen, wenn sie nur wollte.

Im Himmel verschüttete der liebe Gott gerade einen Eimer Sprite, als ich frühmorgens mit Oliver und Ismar ein Taxi anhielt, mich auf die Rückbank setzte und anschnallte. Der Verkehr stadtauswärts war ein epileptischer Anfall; kurz bevor die Schilder stotternd ins Kyrillische wechselten, fuhr die Fahrerin rechts ran, das ihre vom Dach zu nehmen, erklärte, für die Republika Srpska habe sie keine Lizenz und sich außerdem in diesem ihr unbekannten Teil Dobrinjas verfahren, doch schon bald tauchte hinter unserer Frontscheibe der Tower des Flughafens auf, unter dessen Rollfeld die Bewohner während der Belagerung ihrer Stadt einen Stollen ausgehoben hatten, um sich mit dem Nötigsten zu versorgen, Waffen, Ziegen, Medizin. Bevor unsere Fahrerin das Taxi in die Zielstraße Tuneli lenkte, rollten wir noch an einer Verkehrskontrolle vorbei, und da rutschten auch die anderen auf ihren Polstern umher, und griffen zu den Gurten.

Portrait Pascal Richmann: © Sabrina Richmann, Portrait Oliver Rohe © C. Hélie
Übersetzung FR → DE: Odile Kennel, Traduction DE → FR: Stéphanie Lux, Translation DE → BS: Mirza Purić, Translation FR → BS: Almira Drink