Oliver Rohe
Oliver Rohe
Die Namen von Sarajevo
Am Gate G17 des Wiener Flughafens, wo ich umsteige, unterhält sich Harlem Désir mit seinen jungen Assistenten. Zwischen ihn und sein Image passt nicht einmal ein Zigarettenpapier – da ist nicht der geringste Abstand, kein Spielraum. Wir sind vermutlich nur wenige hier unter den Deutsch, Englisch und Serbo-Kroatisch sprechenden Reisenden, die ihn erkennen. Keine Ahnung, ob ihn die Anonymität, von der so viele Berühmtheiten träumen, beglückt, keine Ahnung, ob er glücklich ist, in der zweiten Klasse zu sitzen, auf einem der hinteren Sitze, während ich ziemlich weit vorne Platz nehme, wo es im Falle von Unannehmlichkeiten am wenigsten schwankt. Ich behaupte jetzt einfach mal, dass er glücklich ist.
Tiefhängende, hellgraue Wolken verbergen den Blick auf die Landschaft. Leichter Regen. Das Rollfeld des Flughafens von Sarajevo ist leer. Harlem Désir steigt in den Bus, der uns zum Terminal bringt. Gelassen passiert er die Passkontrolle in der Schlange für Diplomaten, die am Ende doch kaum schneller vorankommt als die für Normalbürger. Ich stehe noch immer in seinem Windschatten, als er von einer kleinen, offiziellen Delegation in Empfang genommen wird, von der ich annehme, dass sie ihn noch glücklicher macht, als er es schon im Flugzeug war.
Meine Reisegefährten, Ismar und Pascal, warten in der Ankunftshalle auf mich. Ismar ist aus Bosnien. Als Kind hat er in Mostar gelebt, dann in Sarajevo, danach ist er nach Deutschland ausgewandert, nach Berlin, wo er einen Masterstudiengang in deutscher Literatur absolviert. Wir haben Glück, dass er uns auf unserer Reise begleitet: Er ermöglicht uns einen privilegierten, intimeren Zugang zur Stadt; wir erfahren Dinge, die wir ohne ihn nie erfahren hätten. Die beiden schütteln mir freundschaftlich die Hand, fragen, ob ich eine gute Reise hatte. Ich erzähle von Harlem Désir. Ausführlich. Sie lächeln höflich und peinlich berührt. In Sarajevo muss ich mich von gewissen Eigennamen verabschieden. Sie haben außerhalb ihrer Basis keine Wirkung.
Riesige Gebäudekomplexe sozialistischer Bauart tauchen am Ausgang des Flughafengeländes auf und säumen die Straße ins Stadtzentrum. An den alten, teils schon abbröckelnden Betonfassaden Einschläge von Kugeln und anderen Geschossen, geflickte Risse, neue Betonsteine. Für den, der zum ersten Mal in der Stadt ist, sind diese doppelt beschädigten Gebäude – einmal durch das Ende der Utopie, deren Schmuckstück sie waren, ein weiteres Mal durch die vierjährige Belagerung – die ersten Monumente des Krieges; für die Bosnier sind es einfach Wohnorte, hier leben sie. Mit großer Geschwindigkeit ziehen abgerundete, gelbe und rote Waggons an unserer Linken im Zentrum der großen Allee vorbei. Ihr Grollen klingt wie aus der Zeit der Industrialisierung, so sehr zielen die westlichen Straßenbahnen, ohne dass es ihnen immer gelingt, auf Diskretion. Wir nähern uns dem Holiday Inn und den renovierten Zwillingstürmen Momo und Uzeir, und ich habe plötzlich das Gefühl, dass mein Aufenthalt vor allem einem dienen wird: den bereits begonnenen Kampf aufzuzeichnen zwischen den Bildern meiner Erinnerung über die Belagerung der Stadt und der heutigen Realität der Stadt.
Die Hügel hinter der Scheibe tauchen im Takt der Lücken zwischen den Hochhauskomplexen auf, leicht verwaschen von den Wolken. Bis auf halbe Höhe sind ihre Hänge mit ein- oder zweistöckigen Häusern mit roten Ziegeldächern übersät. Dass die von der Straße getrennten Berge dort oben alle zusammenlaufen, dass sie einen perfekten Kreis über unseren Köpfen bilden, eine Arena, wird mir erst bewusst, als wir aus dem Taxi gestiegen sind, das Hotel verlassen haben und erstmals das Zentrum von Sarajevo betreten.
Auf dem Weg zu unserer Verabredung im Atelier Figure, wo morgen Abend unsere Lesung stattfinden soll, bleiben wir vor zwei Skulpturen am Rande des Veliki Park stehen. Die eine (Nermine, dođi!) stellt einen stehenden Mann in Jeans und T-Shirt da, er hat den Kopf leicht in den Nacken gelegt, sein offener Mund ist kreisrund, er formt seine Hände zum Megafon. Er ruft jemandem etwas zu, den wir nicht sehen. Ein bosnischer Zivilist, erklärt Ismar: Die serbischen Kräfte zwangen ihn, seinen Sohn mit dem Versprechen aus seinem Versteck in der Umgebung zu locken, er werde verschont werden, wenn er sich ergebe. Die Körper von Vater und Sohn wurden 2008 aus einem der Massengräber von Srebrenica gezogen. Die zweite Statue steht in einem Marmorbrunnen und ist abstrakter, ökumenischer auch; sie ist den bosnischen, muslimischen, serbischen, kroatischen, jüdischen und den Roma-Kindern gewidmet, die in den Monaten der Belagerung von Sarajevo ums Leben kamen. 521 Namen sind in kleine metallene Kolonnen in unmittelbarer Nähe eingraviert. An der gegenüberliegenden Seite der Straße erhebt sich ein gigantisches, nagelneues Einkaufszentrum aus Glas.
Das Atelier Figure befindet sich in der letzten Etage eines Wohnhauses. Eine Altbauwohnung mit Backsteinwänden voller Fotos, Karten, Gemälde und Lampen. Auf dem Boden Teppiche und Teppichboden. Ein oder zwei alte Kachelöfen, ein Klavier, Holztruhen, Holztische und -schränke, ein Haufen Zeugs. Eine kleine Bühne ganz hinten im Raum. Der Ort ist auf fantastische Weise originell. Sein Besitzer Slaviša Mašić – lange, graue Haare, grauer Bart, Hut, rotes Holzfällerhemd, breitschultrig und untersetzt, eine Persönlichkeit im besten Sinne – bietet uns eine durchsichtige Flüssigkeit an. Ein lokaler Alkohol. Mich überfällt eine plötzliche Müdigkeit, ich kann mich nicht mehr auf die Unterhaltung konzentrieren. Ich nehme die Wand und einige Gegenstände näher in Augenschein, bevor ich auf den Balkon trete. Vor mir liegen die Berge.
Wir gehen auf der belebten Hauptstraße der Altstadt spazieren. Hier und da sieht man noch von Kugeleinschlägen übersäte Fassaden, doch die Mehrheit der Gebäude scheint wieder in ihren ursprünglichen Zustand gebracht worden zu sein, und zwar so perfekt, dass es mir schwerfällt, mir diesen Teil der Stadt im Krieg vorzustellen. Es sind die Berge über uns, vor uns, an unserer Seite und hinter uns, die uns, die Fremden und Touristen, an die Belagerung erinnern. Die Architektur ist vernarbt, vergesslich: Über ungefähr hundert Meter wechseln sich österreich-ungarischer Stil und Modernismus ab, bevor das osmanische Erbe an die Reihe kommt. Die Legende lügt nicht. Kirchen gefolgt von Moscheen, gefolgt von Kirchen. Handwerkerateliers neben Geschäften, ein Neben- und Miteinander unterschiedlicher Kleidungsstile, Aufmachungen, Erscheinungen, Klassen, Atmosphären. Der Übergang von einem zum anderen Stil erfolgt nahtlos und trotzt den Fakten: Die Grenze zwischen dem alten österreichisch-ungarischen und osmanischen Reich wurde am Boden nachgezogen, aber sie ist nicht spürbar, wirkt einfach nur künstlich. Was mich im ersten Moment an Sarajevo verwirrt hat – dass die Elemente der muslimischen Kultur aus ihrem üblichen Nahostrahmen, in dem sie mir vertraut sind, heraustreten in eine exotische, alpine Landschaft –, besänftigt mich jetzt. Die Unordnung der Zeichen im Raum, in dem ich mich bewege, Orient im Okzident, Okzident im Orient, besänftigt mich; sogar der Eindruck der Berge wird sanfter.
(Wie in jeder x-beliebigen Stadt Westeuropas, denke ich etwas später, überall leben Menschen und Dinge zusammen. Die reflexartige Suche nach den „Unterschieden“, nach der „Vielfalt“ bei anderen, als gäbe es sie eigentlich nur bei uns, als wären wir überrascht, sie anderswo wiederzufinden, in einer Gesellschaft, die wir uns monolithisch gedacht hatten. Oder man sucht umgekehrt geradezu zwanghaft nach ihr, um sich zu vergewissern, dass das, was schon immer über diese Stadt gesagt wurde, wahr ist, um ihr Klischee zu bestätigen. Der Blick schießt sich gewissermaßen ins eigene Knie, indem er sich selbst Grenzen auferlegt und nicht mehr nach anderen Themen sucht. Kontraste und Vielfalt nehmen die Einwohner Sarajevos vermutlich nicht wahr, da sie sich nicht von außen sehen. Sie nehmen die Unterschiede, die sie ausmachen, nur wahr, wenn sie bedroht sind.)
Das Licht sinkt auf die roten Ziegeldächer. Die Geschäfte schließen, die Gassen leeren sich. Der Ruf zum Gebet weht begleitet von einer frischen Brise vom anderen Ufer herüber. Wir sitzen auf der Terrasse eines kleinen traditionellen Restaurants. Auf der Karte Fleisch. Ismar bestellt für alle Ćevapi. Ich fürchte schon, unter diesem Namen den Ersatz für türkischen Kebab serviert zu bekommen, den zu probieren ich mich immer geweigert habe, weil dieser wiederum nur der nahr- und zweifelhafte industrielle Ersatz des libanesischen Shawarma ist, den ich mir bei meiner Ehre geschworen habe, niemals zu kosten. Das Gericht ist trockener, schlichter als Kebab: längliche Kalbsbouletten in einem ziemlich dicken Pitabrot, gehackte Zwiebeln als Beilage.
Wir reden über die Vergangenheit der Stadt, darüber, dass die bosnische Bevölkerung von den europäischen Staaten im Stich gelassen wurde, und fragen uns, welche Rolle Islamophobie dabei gespielt hat – Sie wissen schon, dieses schwammige, freiheitsfeindliche Konzept, das von machtvollen, linksradikalen Kollaborateuren erfunden wurde, um noch die vorsichtigste Kritik am Islam im Westen zu unterbinden. Das Gespräch wechselt zur Behandlung der Exilierten in Deutschland und Frankreich. Merkel ein Kompliment zu machen, kostet mich Überwindung, aber ich lobe sie für ihre Entscheidung, 2015 die Grenzen für die syrischen Flüchtenden zu öffnen, während die Regierung von Hollande und Valls ihnen die Tür vor der Nase zuschlug. Mag Merkels Motivation noch so zweifelhaft und eigennützig gewesen sein, sich für Gastfreundlichkeit zu entscheiden (bzw. die Verpflichtung zur Gastfreundlichkeit Kriegsflüchtlingen gegenüber zu respektieren) erscheint mir umso mutiger (normaler), als dass Merkel bei den Wahlen im letzten Herbst teuer dafür bezahlt hat.
Da mussten nicht erst die Syrer kommen, damit die Alternative für Deutschland mit ihren Ideen bei den deutschen Wählern punkten konnte, sagt Pascal, und hat Recht. Zu behaupten, die AfD habe wegen Merkels Willkommenspolitik so viele Sitze im Parlament erhalten, läuft darauf hinaus, das Hauptargument dieser Partei zu akzeptieren und die Schuld wieder einmal auf die Geflüchteten zu schieben.
Dann erwähnt Pascal einen Text, den er vor kurzem für den Merkur geschrieben hat, und in dem er die verbindende ideologische Verwandtschaft beim Thema Einwanderung zwischen der AfD und der hochrespektablen CDU zeigt. Der Artikel holt unter anderem aus der Vergessenheit, was Kohl Thatcher gegenüber Anfang der 80er Jahre während eines offiziellen Besuchs geäußert hat. Über die nächsten vier Jahre, so Kohl, werde es notwendig sein, die Zahl der Türken um 50 Prozent zu reduzieren (…) Deutschland habe kein Problem mit den Portugiesen, den Italienern, selbst den Südostasiaten, weil diese Gemeinschaften sich gut integrierten. Aber die Türken kämen aus einer sehr andersartigen Kultur … [1] Wir sind uns schnell darüber einig, dass der zeitgleiche Triumph des liberalen Wirtschaftssystems und nationaler Mythen auf das Konto der europäischen Sozialdemokratie und der unseligen „Koalitionen der Mitte“ geht. Ich bestelle einen zweiten Teller Ćevapi.
Im Wiener Café des Hotel Europe, in einem etwas ältlich wirkenden, pompösen Dekor, kommt das Gespräch wie von selbst auf W. G. Sebald. Ismar schreibt über ihn seine Masterarbeit; Pascal bereut es, ihn erst jetzt gelesen zu haben, nachdem sein erstes Buch bereits herausgekommen ist. Es trägt den – übrigens ziemlich genialen – Titel Über Deutschland, über alles. Beide wundern sich, dass Sebald in Deutschland so wenig gelesen wird, während er im Ausland, vor allem in Frankreich und den USA, ein riesiges Echo fand und findet, was er auch den überschwänglichen Artikeln von Susan Sontag verdankt. Ihr Name ist in Sarajevo unauslöschlich mit Becketts Godot verbunden, den sie während der Belagerung der Stadt im Nationaltheater mit den lokalen Schauspielern und Technikern inszeniert hat. Beide lieben diese großartige Prosa, die mit seltener Geschmeidigkeit kluge und sensible Beziehungen zwischen Gegenständen, Themen, Wissen und Figuren knüpft, in einer in Raum verwandelten und sich auf einer flachen Oberfläche entfaltenden Zeit (ich fasse das auf meine Art zusammen). Ich kann keiner der genannten Qualitäten ernsthaft widersprechen, ich habe Sebald genau deswegen geliebt, aber ich finde, dass die Melancholie seiner Sprache und seines Blicks auf noch jede Facette der Welt zu einheitlich ist, schon fast aufgesetzt wirkt. So sehr wir uns fröhlich auf den europäischen Zentrismus als Schuldigen eingeschossen hatten, so sehr ist W.G. Sebald heute Abend Anlass einer ersten deutsch-französischen Meinungsverschiedenheit.
Ismar nimmt uns mit zur Lateinerbrücke, wo der berühmte Erzherzog erschossen wurde. Die Miljacka fließt ruhig zu unseren Füßen. Etwas weiter vorne prangen am linken Ufer eine neue türkische Fruchtbarkeitsklinik und die große weiße Synagoge von Sarajevo. Auf dem Weg zur Kunsthochschule denke ich an eine kurze Szene, einen kurzen Austausch mit Ismar heute Nachmittag. Wir befanden uns in der Ferhadija-Straße, vor der Herz-Jesu-Kathedrale. Ein schwarz-weißes Schild wies auf eine Fotoausstellung über das Massaker von Srebrenica in der Galerie 11/07/95 hin. Ich sagte, dass ich das Museum am nächsten Tag gerne besuchen würde. Er werde nicht mitkommen, erwiderte Ismar. Seine kurze, knappe, so legitime und verständliche Absage führte mir vor Augen, wie viel Schamlosigkeit in der Gier nach historischen Tragödien liegt, die ich, wie vermutlich jeder Tourist, seit meiner Ankunft in Bosnien mit mir herumtrage. Ich bin umso überraschter über diese spontane, verschämte Gier in mir, als ich sie oft genug bei denen verurteilt habe, die das Schatila-Lager im Süden Beiruts besuchen wollten.
Die Sammlung des Ars Aevi Museums. Von den ausgestellten Werken großer Künstler (Nan Goldin, Irwin, Beuys, Kapoor, Abramović usw.), die ein Solidaritäts-Geschenk für die belagerte Bevölkerung von Sarajevo gewesen sind, gefällt mir das von Stephan Balkenhol am besten. Lange betrachte ich diesen etwas verkleinerten Mann in Alltagskleidung, in leicht zusammengesunkener, inoffensiver Haltung, der nichts will. Seine Präsenz ist so nackt, so unpersönlich, dass sie von einer unleugbaren Lebendigkeit ist. Direkt neben dem Museum, aus dem ich ins gleißende Licht trete, taucht das riesige, graue Schiff des Skanderjia-Zentrums auf. Im überdachten Innenraum dieses Sportzentrums fanden 1984 die Olympischen Spiele statt; in seinem Untergeschoss wird heute noch jährlich die Buchmesse veranstaltet. Doch dem erschöpften Wunder scheint ein schmerzliches Sebald-Schicksal vorbehalten zu sein: Es wird vermutlich – leider – abgerissen.
Mittagspause. Die Böreks werden hier nicht stückweise, sondern nach Gewicht verkauft. Ich nehme die mit Käse- und Kartoffelfüllung, ein paar Tomatenscheiben zur Dekoration sind mit dabei. Während ich sie esse – sie sind köstlich – bedaure ich es jetzt schon, morgen nicht noch einmal herkommen zu können, um Böreks zu essen.
Wir überqueren die Brücke, auf der die zwei ersten Opfer des Bosnienkrieges gefallen sind. Zwei Frauen, Freundinnen, eine Serbin aus Sarajevo, Olga Sučić, die andere eine Muslimin aus Dubrovnik, Suada Dilberović. Eine Gedenktafel erinnert an beide, doch das kollektive Gedächtnis, erklärt Ismar – Gefühl statt Geschichte –, erinnert sich heute nur noch an den Namen der zweiten. Diese Brücke ist also die Suada- Dilberović-Brücke. Hinter uns erstreckt sich bis auf halbe Höhe des Hügels das Viertel, das früher unter serbischer Kontrolle war; hier verlief die Front, in diesem beschränkten Radius, davon zeugt das Gebäude gegenüber mit dem grauen Verputz. Von denen, die ich seit gestern gesehen habe, ist es das am meisten zerstörte. Unterwegs frage ich Ismar, was aus den ehemaligen Warlords geworden ist, ob sie sich ans aktuelle politische Leben assimiliert haben, ob sie als unberührbare Helden verehrt oder im Gegenteil gemieden und als störende Zeugen betrachtet werden. Die meisten sind tot, antwortet er, sie sind im Kampf gefallen oder in irgendeiner Racheaktion getötet worden; die anderen sind nach dem Ende der Belagerung, im Laufe der 2000er Jahre gestorben. Die grüne, blühende Allee, die uns ins Café Tito bringt, liegt direkt am Fluss. Wir begegnen Joggern, Paaren, Müttern mit Kinderwägen, Männern in Anzug und Krawatte. Ich stelle Ismar nicht die Frage nach all den anderen, die keine Chefs waren, keine hohen Dienstgrade hatten oder eine besondere Verantwortung, sondern einfach zur Waffe gegriffen, vielleicht getötet haben, um sich zu verteidigen: Wie sind sie ins normale Leben zurückgekehrt? Verfallene Wohnhäuser und andere verlassene Gebäude säumen hin und wieder unseren Weg. Ich nehme sie alle auf.
Mit Nicolas Moll und Florian Haderer auf dem Dach des BBI-Einkaufszentrums. Die beiden werden unsere Veranstaltung im Atelier Figure moderieren. Gemeinsam gehen wir die Themen durch, die wir heute Abend anschneiden möchten, legen die Zeit fest, die uns für die Lesung zur Verfügung steht, besprechen die Dolmetscherfrage und die der Beteiligung des Publikums. Während unserer Unterhaltung breitet sich die Sonne allmählich auf der Terrasse aus, quillt über die Laube, verbrennt Nicolas Profil und seinen linken Arm. Mein Sahne-Dessert sieht schon nicht mehr appetitlich aus, höchste Zeit zu gehen. Durch die Glaswand des Aufzugs suche ich die Skulptur von Nermine, dođi! unten im Garten. Sie wird von den Bäumen verdeckt. Der Aufzug hält in der dritten Etage, ein paar Jugendliche steigen ein. Es ist eng, die alte Dame, die zuerst da war, scheint sich zu beschweren, diskutiert mit einem der Jugendlichen. Kaum sind wir draußen und haben uns etwas entfernt, übersetzt Ismar den Dialog:
Die Großmutter: Sind wir jetzt nicht ein paar zu viel?
Der Jugendliche: Nein, Großmutter, wir passen alle rein.
Die Großmutter: Ich hab den Krieg überlebt, war verletzt, ich habe Angst vor geschlossenen Räumen.
Der Jugendliche: Keine Sorge, Großmutter, Gott schützt uns alle.
Die Großmutter: Gott existiert nicht. Wenn es ihn gäbe, hätte es den Krieg nicht gegeben.
Der Jugendliche: Genau deshalb sind Sie verletzt, Großmutter.
…
Der Jugendliche: Sehen Sie, Großmutter, Gott existiert. Sie sind gut angekommen.
Die Großmutter: Gott existiert nicht, es gibt nur Bärte.
Ausruhen im Hotel. Ich erinnere mich, dass bei Ausbruch des Krieges in Ex-Jugoslawien in den Medien, in mehr oder weniger fundierten Kommentaren und im politischen Diskurs oft von der Libanisierung des Balkans die Rede war. Gemeint war damit der Zusammenbruch der staatlichen Strukturen, die extreme Zersplitterung des Territoriums, der Bruderkrieg, die Zunahme bewaffneter Banden, die extreme Grausamkeit der Massaker. Die Grausamkeit, die Rückkehr des Archaischen, die Erbbrutalität: unbekannte Phänomene für den Westen mit seinen verfeinerten aseptischen Kriegsmethoden. Zehn Jahre später, als die US-amerikanische Armee in den Irak einmarschierte und das Land völlig zerfiel, sprachen die Medien und Experten von der Balkanisierung des Iraks und minderten bei der Gelegenheit die Rolle der amerikanischen Besatzer und der benachbarten Mächte in der Aufrechterhaltung des Bürgerkrieges. Die sogenannte Balkanisierung wurde auf den Urinstinkt der sunnitischen und schiitischen Iraker zurückgeführt, die natürlich nur den Sturz Saddam Husseins abgewartet hatten, um sich gegenseitig umzubringen. Acht Jahre später, nachdem in Syrien der Aufstand blutig niedergeschlagen, das Land zerteilt und den regionalen Gelüsten und internationalen Interventionen überlassen wurde, hieß es, das Land sei auf dem Weg zur Irakisierung. Diese Art der semantischen Migration vom Libanon über Jugoslawien und den Irak nach Syrien ist typisch für den allgemeinen Diskurs über Bürgerkriege – die Gruppen sind von Natur aus verfeindet und wollen nur eins, nämlich sich gegenseitig vernichten. Deshalb braucht man auch unbedingt Polizei – den historischen Einzelanalysen zum Trotz, die zeigen, dass jeder Konflikt unterschiedliche Ursachen und Abläufe hat und unterschiedliche Verhaltensweisen hervorbringt. Der Bruderkrieg, sofern es einen Bruderkrieg gibt, hat seine Ursache nicht in irgendeiner Abstraktion oder Natur, sondern beginnt immer mit konkreten Ambitionen und politischen Strategien. Er entsteht. Trotz konzeptioneller Fehler und zweifelhafter Motivation hat der Diskurs über Bürgerkrieg jedoch in einer Sache Recht: Diese Art von bewaffneter Gewalt, die meist in den urbanen Zentren ihren Anfang nimmt und sich vor allem gegen die Zivilbevölkerung richtet, eint sehr unterschiedliche, weit voneinander entfernt gelegene Städte in der Art ihrer Ruinenlandschaft, in ihrem Leid und in ihren gemeinsamen Wunden und Verstümmelungen (die Bilder von Sarajevos Straßen nach der Belagerung könnten auch die einer syrischen Stadt heute sein, die wiederum die einer irakischen Stadt gestern sein könnten usw.). Die Frage, die ich mir gestellt habe, als wir gestern auf dem Weg vom Flughafen ins Hotel die zwei scheußlichen, erst vor kurzem fertiggestellten Zwillingsglastürme erblickten, gleich nach der Kreuzung, an dem das Holiday Inn steht, und die ich mir erneut stelle, seit wir das BBI-Zentrum verlassen habe, die Frage also, wäre folgende: Gibt es eine vergleichbare Art und Weise des Wiederaufbaus, etwas wie obligatorische Immobilienfiguren, urbane Falten, die dem Wiederaufbau innewohnen? Teilen diese Städte vielleicht eine Nachkriegslandschaft? Soweit ich es bisher überblicke, versucht Sarajevo, sein österreich-ungarisches, osmanisches und sozialistisches Erbe zu bewahren, auch wenn es immer wieder angegriffen, verletzt, verstümmelt wird von diesen monströsen Zentren und Türmen, die jede Stadt auf dem Weg ihrer Genesung voller Stolz erbauen lässt, weil sie denkt, damit ihre vermeintliche Verspätung aufholen zu können.
Am meisten investieren in Bosnien die Golfmonarchien in Stein. Die dortige Mittelklasse, von der mir einige Vertreter am Flughafen begegnet sind, verbringen häufig ihre Ferien oder den Fastenmonat hier, wegen des Klimas, der bergigen Landschaft, der erschwinglichen Preise, des Essens und der Gebetsorte (einige davon von ihnen selbst nach ästhetischen Normen erbaut, die mit dem bosnischen Stil wenig gemeinsam haben). Und natürlich weil es für sie nicht mehr möglich ist, ihre Ferien wie früher in Syrien und vor allem im Libanon zu verbringen. Das Stadtzentrum von Sarajevo ist ziemlich gut erhalten, aber das gilt bald nicht mehr für das Umland und das Hinterland, wo Unternehmen der arabischen Halbinsel auf tausenden von Hektar riesige Immobilienkomplexe bauen, Residenzen oder ganze Dörfer für die, die es sich leisten können, will heißen, für die Bürger der Golfstaaten.
Nichts oder fast nichts findet so statt, wie wir es drei Stunden zuvor auf der Terrasse des BBI besprochen hatten. Ein Zeichen, dass alles bestens läuft. Das Gespräch zwischen uns auf der Bühne verläuft ohne größere Verluste oder Verzögerungen. Hin und wieder mischt sich jemand aus dem Publikum ein, unterbricht uns, stellt Fragen oder widerspricht dem, was wir gesagt haben, ich bin sehr zufrieden. Noch während der Veranstaltung, nicht erst danach, wird mir bewusst, was für ein Glück es bedeutet, an diesem Austausch teilnehmen zu dürfen, der in so viele Sprachen vervielfältigt wird, in einer so besonderen Stadt. Ich bedauere es nur, Pascals Buch nicht gelesen zu haben, aber ich kann kein Deutsch. Auf Florians Bitte hin spricht er noch einmal über seinen Artikel über die AfD und die CDU von Helmut Kohl. Die Brutalität und zeitlose Dummheit von Kohls Ausspruch über die Türken macht mich immer noch fassungslos. Pascal erzählt, dass damals, 1983, Lothar Matthäus seine Stimme gegen den allgegenwärtigen anti-türkischen Rassismus der deutschen Gesellschaft erhoben und die Einwanderer öffentlich in Schutz genommen hatte. Die Ohrfeige, die der muskulöse Lizarazu dem Bayern Jahre später ich weiß nicht mehr aus welchem Grund verpasste, erscheint mir plötzlich weniger sympathisch.
Simone Ginzburg lebt seit fünfzehn Jahren in Sarajevo und arbeitet für den hohen Gerichts- und Strafverfolgungsrat von Bosnien und Herzegowina. Wir treffen ihn neben der Bar. Er ist lebhaft und witzig. Ich frage ihn nach den Vertriebenen und bin mir der wenigen Zeit, die wir haben, und der ziemlich mondänen Umgebung bewusst. Ich frage ihn, ob sie zurückgekehrt sind, ob die, die ihren Besitz verloren hatten oder daraus vertrieben wurden, ihn inzwischen zurückerlangt haben; ob die Nachkriegszeit sich mit der kriegsbedingten Demografie abgefunden hat; anders gesagt, frage ich mich heute, ob die Nachkriegszeit das Kriegsunternehmen belohnt hat. Es sei zweifellos einiges getan worden, erwidert Ginzburg, es seien tatsächlich Menschen zurückgekehrt (ich rekonstruiere aus dem Gedächtnis), aber das Problem sei noch lange nicht gelöst. Das liege an der institutionellen Komplexität, die immer wieder Entscheidungen und deren Umsetzung verhindere (es gibt sechzehn Justizminister!). Manche kehren nur zurück, um ihren Besitz zu verkaufen und gehen dann wieder. Es fehlt an Wohnungen für die Rückkehrer und für die, deren Haus zerstört wurde. Die Serben leben hauptsächlich in Istočno Sarajevo, in der Republik Srpska, wohin sie während des Krieges gezogen waren. Wenige Augenblicke vor unserem Treffen hat Nicolas Moll ähnliche Schlussfolgerungen hinsichtlich der Erinnerungspolitik formuliert. Es habe nach dem Krieg und dann noch einmal Mitte der 2000er Versuche gegeben, Verfahrensweisen nach dem Beispiel der südafrikanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission zu etablieren. Alle sind gescheitert, teils weil das Konzept widersinnig war (die Opfervereinigungen waren nicht eingeladen!), teils weil sie durch die in allen Lagern noch wirksamen Machtstrukturen und nationalistischen Tendenzen behindert wurden. Viele Serben zum Beispiel erkennen zwar an, dass es in Srebenica Massaker gegeben hat, weigern sich aber, den Begriff Genozid zu übernehmen. Viele Bosnier wiederum weigern sich, die von Bosniern begangenen Verbrechen und Grausamkeiten anzuerkennen, nur um dem Opfer- und Relativierungsdiskurs der Serben in Bosnien keine Nahrung zu geben.
Kurzes Gespräch mit Ismar und Pascal auf dem Balkon. Die Berge hinter ihnen liegen im Dunkeln.
Ich weiß, dass es mir in diesen wenigen Tage kaum möglich sein wird, mehr als ein oberflächliches Fragment von Sarajevo kennenzulernen und dass ich vermutlich weder die Gelegenheit noch die Zeit haben werde, mich unter seine Bewohner zu mischen. Doch aus der Begrenzung eines solchen Aufenthaltes die Unmöglichkeit abzuleiten, über das wenige, was wir sehen und hören nachzudenken (es zu versuchen und zu scheitern), würde bedeuten, es sich rhetorisch leicht zu machen. Jeder Aufenthalt ist letztlich zu kurz.
Die Börekverkäufer haben geschlossen. Es wird kühl, ich beeile mich, verpasse die Querstraße zum Hotel, gehe noch einmal zurück. Die goldene arabische Schrift des Al Jazeera-Logos an der Fassade des BBI schimmert unter dem Dach des Hauptgebäudes. Nachts erinnert es weniger an einen Wassertropfen als an eine Flamme.
Gedenkpark Vraca, auf dem Trebević. Erst aus dieser Perspektive lässt die Vorherrschaft der Berge nach. Auch der Park, 1981 zum Gedenken an die Partisanen eröffnet, herrscht nicht über den Besucher: Er ergießt sich wie ein Parcours sanft den Hang hinab, fast in der Horizontale. Der weiße Stein ist abgenutzt, Unkraut wächst in den Rissen am Boden, zwischen den Stufen, an den Mauern. Die serbischen Kräfte haben bei ihrem Rückzug alles verwüstet.
Die Grenze zur Republika Srpska verläuft hier, gleich hinter uns, erklärt Nicolas. Kaum hat er den ausgetreckten linken Arm wieder angewinkelt und seinen Satz beendet, bemerke ich etwa zwanzig Meter weiter unten ein junges Paar, das unter einem Baum (wirklich!) Walzer tanzt und damit illustriert, was Ismar im Taxi gesagt hat: dass der Park den Liebespaaren als Treffpunkt dient. Auf den Steinplatten der nächsten Ebene ein Ring aus anthrazitfarbenem Marmor, in den die Namen einiger berühmter Partisanen eingelassen sind, darunter auch Walter. Nicolas beschreibt eine Szene aus einem patriotischen jugoslawischen Film, Walter verteidigt Sarajevo, in der Walter – den die Nazis nicht erwischen, ja nicht einmal identifizieren können –, in der Walter also als das Volk von Sarajevo bezeichnet wird. Einige Stufen weiter oben taucht die Festung auf. Heute Morgen ist das Gitter verschlossen. Ich versuche, den Innenhof zwischen den Gitterstäben hindurch abzusuchen. Nur noch wenige Buchstaben sind von der Inschrift an der Wand übrig, die jeden einzelnen Namen der 9091 zivilen Opfer des zweiten Weltkrieges erfasst. Die Zeit, die Belagerung, die Verwahrlosung haben sie nach und nach dem Stein entrissen und im Park und in der Stadt verteilt. Selten berühren mich Gedenkstätten für Tote, diese hier tut es, weil sie von den Toten selbst verlassen wurde.
Zwischen den Kiefern die Skulptur einer Frau mit erhobener Faust. Der andere Arm fehlt. Sie hat den Kopf leicht nach hinten gelegt. Ich interpretiere (wie auch Pascal, wie mir scheint), ihre Handbewegung als ikonische Geste, die zum Widerstand aufruft, zur Ablehnung des Faschismus. Nicolas verbessert mich: der zweite Arm ist nachts von Vandalen abgesägt worden. Er wurde Monate oder Jahre später zufällig bei einer Razzia in einer Privatwohnung gefunden. Heute wird er, von seiner Besitzerin getrennt, im Historischen Museum von Sarajevo ausgestellt.
Die roten Dächer und blühenden Bäume auf dem Weg zum alten jüdischen Friedhof würden an ein Dorf in der Schweiz oder Österreich erinnern, wären da nicht die – kaum sichtbaren – Einschläge von Kugeln an den Fassaden einiger Häuser. Nach dem Prager Friedhof ist dies der größte jüdische Friedhof in Europa. Nicolas erzählt, dass die während des Krieges hier gebliebenen Juden als neutrale Partei ein wichtiges Verbindungsglied zwischen den verfeindeten Parteien waren. Mit ihrem Hilfswerk kamen sie den Bewohnern aller Ethnien zur Hilfe. Und sie haben sich, sagt er, für Erinnerungspolitik und Versöhnung eingesetzt.
Eine weitläufige, verwilderte Wiese. In der Mitte ein monumentaler Baum mit hellgrauen Blättern. Darunter, als hätten sie sich bei einem geologischen Unfall aus der Erde geschoben oder wären nach einem langen Sturz vom Gipfel der Alpen ungeordnet auf dem Gras liegengeblieben, kleine, weiße Monolithen, einige mit Moos überzogen. Die sephardischen Grabsteine wurden vermutlich von den Gräbern der christlichen Bogumilen inspiriert. Sie beeindrucken mich zutiefst, was noch verstärkt wird, als ich sie von schräg unten betrachte. Erst mit dem Rücken zur Straße und dem Blick auf die Berge bemerkt man die Ladino-Inschriften auf den Steinen und fragt sich, warum die einen so gut erhalten und die anderen schon nicht mehr leserlich sind. Es sind frühe Grabsteine aus der Gründungszeit des Friedhofs zu Beginn des 17. Jahrhunderts. In Richtung Haupteingang und Straße wirken Geometrie und Materialien der Grabsteine vertrauter. Das lateinische Alphabet kommt zum hebräischen hinzu. Auf diesem tiefer gelegenen und neueren Teil des Friedhofs, der nach der Niederlassung aschkenasischer Juden in der Stadt entstanden ist, steht etwas abseits ein Holocaust-Denkmal. An einer Seite wurde es während der Belagerung von einer Kugel durchbohrt – die serbischen Kräfte beschossen von hier aus die Stadt.
Laut Nicolas wehren die Bosnier sich gegen das Wort Bürgerkrieg, der ihnen vom nationalistischen Diskurs der Serben aufgezwungen wurde, und sprechen lieber von einem Angriffskrieg der Serben und Kroaten gegen die Bosnier. Sarajevo ist nicht von einem Tag auf den nächsten im Wahnsinn des Bruderkriegs versunken, die Stadt wurde von den benachbarten Mächten militärisch angegriffen mit dem Ziel, ihre Multiethnizität zu zerstören.
Rückweg von Trebević zu Fuß. Mittagessen draußen, im Restaurant des Schachclubs. Ein Stück Kalbsfleisch mit Kartoffeln in einem traditionellen Topf gekocht. Tomatensauce. Kein Nachtisch. Nicolas zeigt mir einen Bildband über den Vraca-Gendenkpark aus der Zeit vor dem Verschwinden der Namen von der Wand. Nach dem Essen führt er uns in die Markthalle, in der um diese Zeit nur wenige Stände offen sind. Hier wurden 1994 und 1995 Zivilisten von serbischen Kräften unter Dauerbeschuss genommen. Die Namen der Opfer der Massaker sind auf einer großen (Plexi-?)Glasplatte vor einem roten Hintergrund zu lesen. An drei Stellen fehlen die Fliesen, aber diese Leerstellen sind womöglich Teil des Kunstwerks. In die Marmorplatte draußen sind die Daten der zwei „vom serbischen Aggressor verübten“ Massaker eingeritzt.
Die Fußgängerzone ist voll, aber nicht besonders laut, sommerlich gekleidete Menschen sitzen vor den Cafés. Ich frage Ismar, was er von den rot umrandeten Einschusslöchern überall in der Stadt hält, die von den Bewohnern die Rosen von Sarajevo genannt werden. Er antwortet mit der ihm eigenen Sanftheit: Was soll man sonst draus machen, außer Schönheit?
Auf dem Platz der Befreiung sind Schachbretter auf den Boden gezeichnet, auf denen mit riesigen Figuren Schach gespielt wird. Die Spieler spielen im Stehen, umringt vom ihrem Publikum – einem Heer von war consiglieri –, das mit ihnen über Strategien nachdenkt und die Züge kommentiert. Aus einem Duell wird hier ein kollektiver Sport.
Eine zehnminütige Seilbahnfahrt bringt uns auf den Gipfel der Berge, die wir nun endlich überragen. Mir wird nicht schwindelig. Familien spazieren auf den Wegen umher, nehmen Fotos von der Stadt auf, besetzen Rastplätze. Auf Umwegen kommen wir auf Heiner Müller zu sprechen. Ich gestehe mein Faible für seine Stücke, seine Erzählungen, Essays, Gedichte und seine Autobiographie. Wir wundern uns gemeinsam darüber, dass er in Deutschland fast schon in Vergessenheit geraten ist, als müsste er posthum dafür bezahlen, die DDR nicht verlassen zu haben. Ich erwähne seine Gespräche mit Alexander Kluge, den er aufgrund dessen intellektueller Beweglichkeit zu überschätzen scheint – in der Tat ist diese manchmal etwas oberflächlich. Pascal erzählt mir, dass Kluge der Verfasser des Klappentextes (des blurbs) seines ersten Buches ist. Ich schiebe mein Fettnäpfchen sogleich auf das Konto der europäischen Sozialdemokratie.
Ein Restaurant mitten im Wald. Eine riesige Terrasse, das Publikum eher bürgerlich. Die Sonne in der Fresse. Sebald hat sich schon wieder zu uns an den Tisch gesetzt, und ich habe schon wieder seine Melancholie missbilligt. Erst hier, in Sarajevo, wo mich die tentakelhafte Erinnerung an Beirut ständig bedrängt, wird mir klar, dass die Melancholie, die ich bei Sebald in den letzten Stunden, in den letzten Jahren so heftig abgelehnt habe, nur ein Zeichen, eine Maske für meine eigene Melancholie ist.
Idioten in einem Vierradantrieb fahren auf der schmalen Straße viel zu nah an uns vorbei. Wir laufen weiter. Die Kurve einer Bobbahn taucht zwischen den Bäumen auf. Die beeindruckende Betonmasse, die uns umgibt, ist mit Graffitis übersäht. Sie windet sich und verliert sich Wald. Ein Bruchteil nur des mehrere Hektar großen Geländes, das wir aus Zeitmangel nicht besichtigen können. Seine Gebäude und Infrastruktur wurden für die Olympischen Spiele und während des Krieges genutzt.
Der Abstieg in der Gondel verläuft schweigend. Als wir im sanfter werdenden Licht langsam über die ersten Häuser schweben, erzählt Ismar, dass die Bewohner der höher gelegenen Stadtviertel fast täglich unter dem Beschuss der Heckenschützen zu den Brunnen im Zentrum hinunter mussten, um Wasser zu holen. Und den gleichen Weg wieder nach oben, zurück nach Hause, beladen mit Kanistern. Er erwähnt den Schriftsteller Miljenko Jergović, dessen Werk ich nicht kenne, und der in seinen Erzählungen das Leben während der Belagerungsmonate beschreibt und Situationen und Verhaltensweisen, die uns heute absurd erscheinen mögen, die für die Bewohner damals jedoch völlig normal, alltäglich waren. Vermutlich findet man in Werken wie diesem, denke ich spontan, die größte Genauigkeit – die geringste Romantik – bei der Beschreibung des Krieges in Sarajevo.
Abendessen zu dritt in einem Restaurant mit familiärer Atmosphäre. Rindergeschnetzeltes mit Zwiebeln. Keine Ahnung, was für eine Soße das ist, aber sie schmeckt köstlich. Das gegrillte Gemüse als Beilage zählt nicht zu den Spezialitäten des Hauses. Die gebratenen Kartoffeln schon. Über Pascals Schulter thront auf einem Regal rechterhand ein großes Heft mit blauem Ledereinband. Sein Titel steht dort in mehreren Sprachen, eine davon Französisch: Livre des plaintes. Beschwerdebuch. Nicht ein einziges Mal haben wir an diesem Abend Sebald erwähnt.
Ich durchkämme am Morgen, bevor das Taxi kommt, die Regale der Buchhandlung Buybooks neben dem Hotel. Finde meine Lektüre für den Rückflug: The fixer von Joe Sacco.
Videos laufen in Schleife in einem Raum des Tunnelmuseums. Die Bilder der Belagerung und der unterirdische Fußweg haben mich noch nie so sehr erschüttert wie hier. Sie erschüttern mich mehr als damals, als sie in den Fernsehnachrichten gezeigt wurden, oder als in den letzten Wochen, als ich mir bei meinen Reisevorbereitungen einige davon angesehen habe.
Hingegen empfinde ich nichts oder höchstens eine unangenehme Skepsis, als ich die zehn Meter lange unterirdische Galerie durchquere, die nach dem heute zerstörten Original wieder aufgebaut wurde. Ich wettere innerlich auf Geschichte-als-touristische-Attraktion, doch dann verfliegt mein erstes Verärgertsein und mir wird bewusst, dass dieser Ort den Touristen nicht den Eindruck von etwas vermitteln will, das sowieso nicht vermittelbar ist, nämlich wie sich das unterirdische Durchqueren der Stadt angefühlt hat. Der Scheintunnel ist nur da, um seine eigene verschüttete Existenz zu überleben, und um die Schlauheit und den Mut derer zu zelebrieren, die ihn gegraben und benutzt haben, das Volk von Sarajevo.
Im Hof diskutieren Pascal und Ismar auf Deutsch. Wechseln sogleich ins Englische, wie sie es in meiner Anwesenheit immer getan haben. Ich meine zu verstehen, dass Ismar Angst hatte, die eigenen Kindheitserinnerungen nicht von den Erinnerungen trennen zu können, die seine Eltern ihm vermittelt haben. Er erzählt – aber ich fürchte, dass hier mein Englisch kaum mehr als eine ungefähre Übersetzung zulässt – von den Wegen seiner Mutter durch die Dunkelheit des zerstörten Mostars. Erwähnt die Angst vor den Gefahren, die in den Ruinen lauerten.
Etwas früher im Taxi auf dem Weg zum Tunnelmuseum. Nachdem wir das olympische Dorf mit seinen rosa Fassaden hinter uns gelassen haben, hält der Wagen am Straßenrand. Die Fahrerin öffnet die Wagentür, entfernt das Taxischild auf dem Dach und legt es in ihren Schoß.
– Warum haben Sie das entfernt?
– Weil wir bald aus Sarajevo raus sind und dann die Republika Srpska kommt.
Was ich jetzt am liebsten hören möchte, ist eine politische Begründung für ihre Geste. Ich möchte hören, dass sie als bosnische Taxifahrerin auf serbischem Territorium nicht arbeiten darf. Sie antwortet auf Ismars Frage, das Taxischild sei nur im Verwaltungsbezirk Sarajevo gültig. Jedes Mal, wenn sie den Stadtbezirk verlässt, muss sie es entfernen, ob in einer serbischen oder bosnischen Gemeinde, spielt keine Rolle.
[1] siehe: https://www.welt.de/politik/deutschland/article118614228/Als-Kohl-die-Haelfte-der-Tuerken-loswerden-wollte.html; Seite aufgerufen am 5.8.2018
Aus dem Französischen übersetzt von Odile Kennel.