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London

Yvan Alagbé und Ulli Lust reisten im Oktober 2017 nach London.
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  • Yvan Alagbé
    15.12.2017

    Ich fahre nach London. Packe ein Buch ein: Le Mariage du Ciel et de l’Enfer et autres poèmes de William Blake. Eine zweisprachige Ausgabe, Auswahl und Übersetzung von Jacques Darras. Ich weiß, dass ich rechtzeitig da sein muss, wenn ich einen Platz im Zug nach England ergattern will. An der Gare du Nord schaue ich auf die Bahnhofsuhr: Noch 29 Minuten bis zur Abfahrt. Ich gehe in die obere Etage, die den Eurostar-Reisenden vorbehalten ist. Die Frau, die am Eingang die lange Schlange pummeliger Menschen abfertigt, stempelt meine Fahrkarte: Mitfahrt kann nicht garantiert werden. Noch 28 Minuten bis zur Abfahrt. Ich hätte 30 Minuten vorher vor Ort sein müssen. Meine Fahrkarte ist auf Deutsch ausgestellt, doch ich hätte die schicksalsträchtige Zahl erkennen können, erkennen müssen. Alle, die nach mir kommen, werden ebenfalls „informiert“, wie die Dame einem Kollegen zuruft. In der Schlange mischen sich die Reisenden unseres Zuges mit den Reisenden, die später abfahren. Die Minuten vergehen. Auf dem schmalen Zugang zu den Bahnsteigen Gedränge, bei der Sicherheitsschleuse stockt die Schlange. Einige der „informierten“ Reisenden versuchen die zu überholen, die sie für weniger wichtig halten, ganz gleich, ob diese sie vorlassen oder nicht. Alles scheint erlaubt. Andere bleiben brav in der Schlange stehen, zunehmend besorgt oder verärgert, sie fragen sich, ob sie wohl zu den Glücklichen gehören werden, die mitfahren dürfen. So auch ich. Die Abfahrt rückt näher. Endlich passieren wir den Zoll und rennen los. Die Beamten der SNCF beruhigen uns, der Zug werde nicht ohne uns losfahren. Wir geben nicht allzu viel auf ihr Wort.

    Rasch entwindet sich der Zug der Stadt, ich schaue in den Himmel und muss weinen. Den Tunnel zu durchqueren berührt mich nicht weiter. Dann wieder Himmel. England.

    Bei der Rückreise treffe ich pünktlich am Bahnhof ein. Und stelle fest, dass es einen erheblichen Unterschied zwischen der Abfertigung der Reisenden am Bahnhof St Pancras und der an der Gare du Nord gibt: Statt Gedränge und Durcheinander eine Schlange pro Zug. Von all den Unterschieden zwischen London und Paris, Frankreich und England, war dieser wohl am auffälligsten. Am Tag nach meiner Rückkehr bleibe ich lange allein auf meinem Zimmer im Bett. Alles hat Schaden genommen für den Verliebten mit dem gebrochenen Herzen. Alles ist zerstört. Alles ist weiß. Durchsichtig. Tot. Sein zertrampelter Körper bewegt sich wie ein Gespenst, kreuzt die anderen Zeitgespenster, sie tragen, warm und funkelnd oder grau und kalt, die Farben des Lebens, der Stadt. Vampire, Zombies, gothic-Krankenschwestern. Und Schaufenster, Lichter, Alkohol, Feinkost oder weniger feine Kost, Damenwäsche. All das hätte genauso gut für einen Monat oder eine Nacht aufgebaut sein können. Wie ein Zirkus. Wie das Bühnenbild einer leidenschaftlichen Feier. Ein heidnisches Ritual. Halloween.

  • Ulli Lust
    2.01.2018

  • Yvan Alagbé
    10.01.2018

    Ein deutscher und ein französischer Autor reisen gemeinsam in eine Stadt, in der sich die europäische Frage stellt. Die Grundidee des Projekts erinnert mich an eine Sendung meiner Kindheit, die auf dem Kanal SEPT lief, einem französischen Kulturprogramm, das später zu ARTE wurde. Die deutsch-französische Produktion namens Histoire parallèle – Parallele Geschichte[1] – rekonstruierte die französische und deutsche Filmberichterstattung während des zweiten Weltkrieges. Zumindest in meiner Erinnerung! Ich habe nachgeschaut, in Wirklichkeit zeigte Histoire parallèle auch US-amerikanische, englische und japanische Wochenschauen. Weltkrieg verpflichtet.

    Die Sendung verfolgte aus dem Abstand von fünfzig Jahren die Tagesereignisse der damaligen Zeit. Liefe die Sendung heute noch, würden wir in diesem Jahr die 68er-Revolte zu sehen bekommen, aber auch das Ende des Währungssystems von Bretton-Woods. Doch um uns einen Spiegel der Zeit vorzuhalten, die uns vertraut ist, müsste eine heutige Version der Sendung viel weiter zurückgehen: ganze 80 Jahre, fürchte ich, bis 1938.

    Hitler, Himmler oder Goebbels stünden illustren Unbekannten gegenüber: Albert Lebrun, Édouard Daladier, George Bonnet. Am 1. Juni fände vielleicht auf französischer Seite der absurde Tod des „entarteten“ Schriftstellers Ödön von Horvath auf den Champs-Elysées eine kurze Erwähnung. Im November würde ein gigantisches Pogrom vornehm „Kristallnacht“ genannt und die Medienmaschinerie würde die pompöse Beerdigung eines nationalsozialistischen Botschaftsrats rekonstruieren, „schändlich ermordet“ von dem jungen Herschel Grynszpan, einem siebzehnjährigen, in Deutschland geborenen polnischen Juden, der aus Frankreich ausgewiesen werden sollte, aber weder nach Polen noch nach Deutschland zurück konnte. Ein „Kind seiner Zeit“. Einer ohne Papiere.

    Allons enfants, also: auf Kinder! Der Name des Projekts besteht aus den ersten Worten der Marseillaise, der französischen Nationalhymne, die auch ein revolutionäres Lied ist. Es ist wohl kaum denkbar, dass eine französische Kulturinstitution ein entsprechendes Projekt Einigkeit und Recht und Freiheit nennen würde, ganz zu schweigen von …  Deutschland, Deutschland über alles! Auch wenn es vielleicht als ehrliche und begeisterte Würdigung des berühmten Modell Deutschland gemeint wäre: Das Unbehagen wäre vorprogrammiert.

    Allons enfants: Das innere Ohr, die Zunge, der Kopf ergänzen sogleich… de la Patrie, des Vaterlandes. Patrie enfante, das Vaterland gebiert Kinder. Europa, das sich gerne als Erbe des antiken Griechenlands darstellt, zählt zu seinen Mythen unter anderem auch jenes Bild der „Eingeborenen“, das von Hesiod oder Platon gezeichnet wurde: merkwürdige Träumerei über ein goldenes Zeitalter, in dem Männer zur Reproduktion keine Frauen brauchten. Sie wurden aus dem Boden geboren. Mutter Vaterland.

    Und dabei ist das Vaterland eben nicht mehr das Mutterland, die Landmutter, die große Göttin. Hinter dem Wort patrie steckt pater, der Vater. Vaterland, Landvater, wie soll man es nennen? Und handelt es sich nicht um das letzte Überbleibsel und zugleich um die konsequenteste Negierung einer weiblichen Gottheit? Heiliger Schutzpatron der Besitzenden, der Landvater gebiert Krieger. Helden. Man stirbt für und durch das Vaterland. Massenhaft. Für reines oder unreines Blut. Religiöser Eifer oder Gipfel der Unterwerfung unter eine Autorität. Nachrichten der damaligen Zeit. Parallele Geschichten. Le jour de Gloire est arrivé. Der Tag des Ruhmes ist gekommen.

    [1] „Die Woche vor fünfzig Jahren“ im deutschsprachigen Format

  • Ulli Lust
    10.03.2018

  • Yvan Alagbé
    23.07.2018

    Hier London. In dem Film Orpheus von Jean Cocteau kommt ein sprechendes Auto vor, und seine Nachrichten klingen wie die von France libre[1]. In einem ihrer Lieder, la Symphonie pastorale, sagt Brigitte Fontaine, das Auto aus Orpheus spreche die Sprache der Feen. Von ihr stammt auch L’Europe, Europa, das sie zusammen mit der Band Noir Désir singt. „Die Wildschweine sind los. Ich wiederhole: Die Wildschweine sind los.“ Später erklärt er: „Wir arbeiten derzeit für Europa.“ Er, das ist der Sänger von Noir Désir, Bertrand C. Er hat eines Nachts seine Gefährtin zu Tode geprügelt. Vor meiner Abfahrt tauchte sein Bild plötzlich wieder auf der Titelseite eines berühmten Kulturmagazins auf. Seine Stimme und Worte kommen mir in den Sinn: „Wir arbeiten derzeit für Europa.“ Oder Europa beschäftigt uns. Doch unsere Träume sind anderswo. Gott sei Dank.  Oder vielmehr … Göttin sei Dank! Freude sei Dank.

    Wir hätten wohl niemals über Religion gesprochen, Ulli Lust und ich, wäre da nicht dieses Buch im überschaubaren Regal dieser winzigen Teestube gewesen, diesem umgebauten Container. Keiner wusste, wo es herkam, irgendjemand hatte es dort zwischen die Rezeptbücher gesteckt. Der Ort ist vegetarisch, glutein- und männerfrei. Die Männer schauen in einem anderen Laden Fußball. Hin und wieder kommt doch diskret einer rein, geht zielstrebig zur Theke und verlässt das Café sofort wieder mit einer Tüte. Eine Bestellung. Internet. Mobile Apps. Neues Konsumverhalten. Alte Jobs. Alte Welt.

    Wir legen eine Pause ein. Sind den ganzen Tag herumgelaufen. Haben uns vorgenommen, Orte zu besuchen, „wo Schwarze wohnen“. Dank Globish habe ich meinen Vorschlag oder meine Absicht nicht gerade diplomatisch ausgedrückt! Ulli war einverstanden. Ich wusste bis dahin nicht, dass sie einen nigerianischen Freund, einen Ehemann sogar, gehabt hatte und dass ihr neustes Buch sich um diese Beziehung dreht. Eine Liebesgeschichte, die durch Rassismus und die heikle Frage der Papiere belastet wird. Haben oder Nichthaben.

    [1] Gemeint sind die verschlüsselten Botschaften der Freien Französischen Streitkräfte auf Radio London während des Zweiten Weltkrieges.

  • Ulli Lust
    7.08.2018

  • Yvan Alagbé
    13.08.2018

    Wir betreten eine evangelische Kirche. Weder romanisch noch gotisch, vermutlich ein früherer Veranstaltungsaal. Neue Kirchen dieser Art begnügen sich in Frankreich mit unauffälligeren oder von den Stadtzentren weiter entfernt gelegenen Orten. Eine enthusiastische junge Frau begrüßt uns höflich. Ihr Gesicht verfinstert sich, als Ulli ihr gesteht, nur ein einziges nigerianisches Wort zu kennen: „Oibo“, also „weiß“. Nicht unbedingt ein sanftes Wort. Wir hätten gerne der Messe beigewohnt, deren Gesänge wir vernommen haben. Keine Chance, sie ist nicht für uns bestimmt. Wir sind herzlich zu einer anderen Messe eingeladen, vermutlich weil wir … Oibos sind. Oibo auch ich. Als ich in Benin lebte, von sechs bis neun Jahren, war ich „yovo“. Weiß. So weiß in Afrika wie ich schwarz in Frankreich bin. Oder „black“, wenn man „cooler“ sein will. Black and french. White and beninese. Cool.

    Auf einer Grenze geboren worden zu sein bedeutet, auf sehr intime Weise zu wissen, dass es sie nicht gibt und im Alltag dennoch ständig mit ihrer Existenz konfrontiert zu werden. Einmal hat meine Mutter in meinen Armen geweint. Ich hatte sie darauf aufmerksam gemacht, dass das, was sie mir über Afrikaner erzählte, rassistisch war. Sie weinte, weil sie sich daran erinnerte, was sie hatte erleiden müssen, vor allem vonseiten ihres Vaters: Sie hatte einen Afrikaner geheiratet, einen Schwarzen, einen Neger, einen Dunkelhäutigen, nennen Sie es, wie Sie wollen.

    Der Schwarze Franzose unterhält sich mit der österreichischen Deutschen. Kanaken unterhalten sich mit Kanaken. Kanaken unterhalten sich mit allen, weil alle Kanaken sind. Wir arbeiten derzeit für Europa. Mein Schneider ist ein Maultier. Flora hat einen roten Hals. Ich mag Gänseleber.

    Hier London. Gleich beim Hotel, noch in derselben Straße, ein quadratischer Platz, begrenzt von einwandfreien georgianischen Wohnhäusern und in der Mitte ein kreisrunder Garten. Eines Morgens umrunde ich ihn auf der Suche nach einem Eingang. Ich halte ihn für einen öffentlichen Park und bin verblüfft, dass es sich um einen privaten Garten handelt. Nur die Anwohner des Platzes haben einen Schlüssel. Ich habe so etwas weder in Paris noch anderswo schon einmal gesehen, ein geheimer Garten, der vor den Blicken der Öffentlichkeit geschützt ist. Man erklärt mir, dass es zwar nicht viele, aber doch schon noch einige dieser Gärten in London gibt, Erbstücke aus einer anderen Zeit. Ein Privileg, das ruhige Souveränität ausstrahlt, eine Ode an das ehrwürdige Privateigentum. Ich habe das deutliche Gefühl, dass sich hier die Essenz einer vom Menschen eingezäunten Natur zeigt, aber auch ihre Grenze.

    Abends, nach unserer misslungenen Reise und Wallfahrt nach Brixton, zeige ich Ulli den Garten. Wir rauchen und umrunden ihn im Licht der Straßenlaternen. Betrachten die hundertjährigen Bäume am Zaun. Sie überragen ihn, überschreiten hin, verschlucken ihn. Blähen sich auf mit Brüsten, Bäuchen, Muskeln. Die Kraft, die hier am Werk ist, kennt keine Grenzen. Wenn man diese Kraft nicht wirken sieht, dann nur, weil sie langsam ist. Wir sind es, die zu schnell vorbeigehen. Unser Leben ist zu kurz. Wir haben also über Religion gesprochen. Denn aus dem verrückten Wagnis, eine Geschichte der Liebe zu schreiben, habe ich zumindest eines gelernt: Das Verschwinden der heidnischen Religionen bedeutete vor allem das Verschwinden der Göttinnen, und zu allererst der Großen Göttin. Der Ursprungsgöttin. Schwarz und schön wie die Nacht.

    Ulli erzählt mir vom Geist der Bäume, der ein paar Meter über ihren Ästen schwebt. Später auf meinem Zimmer fange ich endlich das William Blake-Buch an. Und stoße auf diese Zeilen, die mich in gewissem Sinne an die Aufgabe erinnern, die uns anvertraut wurde: „Die Religionen aller Nationen leiten sich her aus der unterschiedlichen Wahrnehmung des poetischen Genies durch die verschiedenen Nationen, den man allwärts den Geist der Prophezeiung nennt.“[1] All religions are one, bestätigt der Titel des Textes.

    Keine Ahnung, was William Blake mit „Geist der Prophezeiung“ meint, aber zu meinem großen Leidwesen fühle ich mich manchmal als Prophet. Machtlos und lächerlich, aber immerhin. Und zwar, seit ich Karl Polanyi gelesen habe. Obwohl er in London gelebt hat, habe ich keine Spuren von Karl Polanyi dort gefunden. Er wurde in Wien geboren. Wie Mozart und Ulli, nur 1866. Er ist auf die ungarische Seite von Österreich-Ungarn gefallen. Hat Wien 1933 verlassen und ist nach London gegangen, weil in Deutschland Ihr-wisst-schon-wer an die Macht gekommen war. In England unterrichtete er Wirtschaftsgeschichte und sammelte Erinnerungen an die Geburt der englischen Arbeiterbewegung. In dieser Zeit entstand auch sein wichtigstes Werk, The Great Transformation, in dem er die Entstehung der Utopie des freien Marktes nachzeichnet. Wer sich mit den Erschütterungen im heutigen Europa, der Rückkehr seiner bösen Geister und der neoliberalen Diktatur beschäftigt, findet in diesem Buch einiges, was den Sturz des goldenen Kalbes ankündigt. Wie seine gleichlautenden Vorgänger rennt, fliegt, stürmt unser trauriges Imperium immer schneller auf sein Ende zu. Wann das sein wird? Das weiß ich natürlich nicht. Prophet des Unglücks schon, aber kein Hellseher. Und auch kein Himmels- oder Höllenapostel.

    Die Wildschweine sind los. Ich wiederhole: Die Wildschweine sind los. Sich nicht hypnotisieren, einengen lassen vom Katastrophenspektakel. Aufmerksam bleiben, eingenommen von der Freude. Nur diese eine blutige Flagge. Liebe. Akazien sind Marias Rosen. Fernande ist verliebt.

    © Yvan Alagbé

    [1] Abgerufen am 11.8.18 unter: https://books.google.de/ Der oder die Übersetzer*in war nicht herauszufinden.

  • Ulli Lust
    3.10.2018

    Yvan Alagbés Texte übersetzte Odile Kennel ins Deutsche, die Beiträge von Ulli Lust übertrug Stéphanie Lux ins Französische. Imogen Taylor übersetzte alle Beiträge ins Englische.

Portrait Yvan Alagbé & Ulli Lust: © Etienne Gilfillan
Übersetzung FR → DE: Odile Kennel, Traduction DE → FR: Stéphanie Lux, Translation DE / FR → EN: Imogen Taylor